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: Schlingensief! Kriegsblind!

„Der ist doch durch! DURCH!“, schimpft ein Kollege kurz vor der Abstimmung, versetzt der Luft noch ein paar Hiebe und lehnt sich emphatisch zurück. Ob das ein Nachhall der legendären Streitlust ist, von der wir „Neuzugänge“ der Jury die Älteren manchmal raunen hören?

In den Sechziger-, Siebzigerjahren, als der 1950 gegründete Preis in seinen Flegeljahren war, soll es oft ganz schön knallig zugegangen sein (persönliche Beleidigungen inbegriffen). Heute verlaufen die Diskussionen zwischen den Juroren – Gesandten der beiden Träger des Preises, des Bundes der Kriegsblinden Deutschlands und der Filmstiftung NRW, sowie freien Kritikern – anregend, hart und herzlich. Und ein empörter Einwurf wie oben ist eher stilistisch als inhaltlich zu verstehen. Denn natürlich weiß jeder hier im Sitzungssaal des Saarländischen Rundfunks, dass Christoph Schlingensief manchmal ein bisschen hyperaktiv durch den Kulturbetrieb eiert. „Durch“, also abgefrühstückt, ist er deshalb nicht. Und so hat die knappe Mehrheit der 19 Juroren für Schlingensiefs „Rosebud“ gestimmt – ein Glück! Denn den „Oscar“ des deutschen Hörspiels bekommt nun mal niemand wegen oder trotz lauter Allgegenwärtigkeit im Kulturbetrieb. Sondern für eine Leistung, die „in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert“.

„Rosebuds“ schärfste Konkurrenten in der Endrunde („Und was machen wir jetzt? Wir machen weiter. Nur weiter“ von Norbert Jochum, HR; „Krupp oder die Erfindung des bürgerlichen Zeitalters“ von Peter Märthesheimer, WDR) sind zwar routiniert unterhaltsam bis verdienstvoll, aber unterm Strich doch aufs Wort konzentrierte „Nummer Sicher“-Produktionen. Die Möglichkeiten des Mediums werden trotz sprachlicher Könnerschaft nicht annähernd ausgeschöpft.

Schlingensief dagegen liebt all das, was das Radio so sprühend vital macht – und zwar nicht erst seit „Rosebud“: das schräge Geräusch wie das direkte Wort, den suggestiven Soundtrack und die Stimmakrobatik. Das Preisstück ist das dritte Hörspiel des Allrounders. Auf die rotzfreche Abrechnung mit den politisch korrekten Gutmenschen Westdeutschlands, „Rocky Dutschke 68“ (1997), folgte eine etwas matte Helfersyndrom-Persiflage, „Lager ohne Grenzen“ (1999). Jetzt ist der Satiriker wieder in Topform und inszeniert einen entlarvenden Politkarneval, der nichts weniger sein will als „die Geschichte eines deutschen Großverlegers. Die Geschichte des deutschen Theaters und die Geschichte der Berliner Republik“. Kleiner ging’s nicht. Und so tanzen denn alle an: der Bundeskanzler samt Gattin, der zum Verleger geläuterte Exterrorist Rosmer (gekonnt infantil: Volker Spengler), seine ebenfalls anschlagsgestählte Gattin Margit (Sophie Rois, herrlich kratzig wie immer) und die beiden unterentwickelten Kinder. Dazu der klar erkennbare Alleswoller Guido Westerwelle alias Kroll alias Martin Wuttke. Man gründet Großzeitungen, schwärmt von den guten alten RAF-Zeiten, ringt mit dem neuen Terrorismus und kriegt die Medienrepublik nicht in den Griff und will sich eigentlich nur selbst verwirklichen. Adorno, der Säulenheilige der 68er, rhythmisiert das Ganze mit klugen O-Ton-Sätzen. Die Darsteller spielen das kalkulierte Chaos mitreißend lustvoll, aber mit tödlichem Ernst. Sodass unter dem spaßigen Hin und Her ein unheimliches Schwingen spürbar wird. Durch seine Lust am Lauten, Schrillen, Direkten führt Schlingensief hier nebenbei auch vor, dass ein Hörspiel zwar im unsichtbaren, aber keineswegs im schalltoten Raum stattfindet. Und das Fehlen des Bilds tut ihm merklich gut. Hier muss er seine Ideen einfach bündeln und sortiert unter die Leute bringen. Was herauskommt, ist natürlich nicht für die Ewigkeit geschaffen. Sondern flüchtig, eben Radio.

Doch nicht so ganz: Der Deutschlandfunk wird das Kriegsblinden-Siegerhörspiel zur offiziellen Preisverleihung im Sommer noch einmal senden, der genaue Termin steht noch nicht fest. GABY HARTEL

Infos unter www.hoerspiel.com. (Verona von Blaupunkt ist in Urlaub)