Die RAF ist so unbekannt wie die Kaiserzeit

Charlottenburger Gymnasiasten diskutieren die Ulrike-Meinhof-Biografie „Lieber wütend als traurig“. Es geht um die Frage, wie viel Verständnis man für den Lebenswandel einer RAF-Terroristin aufbringen darf. Und weshalb sich Teenager von heute den politisierten 70er-Jahren so fern fühlen

Die Bücher im „Neuheiten“-Ständer haben Titel wie „Die schönsten schmökerbaren Pferdegeschichten“, „Schmeckt’s? Alles übers Essen“ oder „Rock your Body – Tanz dich schlank, fit und sexy!“ Es ist neun Uhr morgens in der Heinrich-Schulz-Bibliothek im Charlottenburger Rathaus, Abteilung Jugendbibliothek. Vor dem Ständer, auf roten Holzstühlen, sitzen 16 Schülerinnen und Schüler des Heinz-Berggruen-Gymnasiums, Leistungskurse Geschichte und Politikwissenschaft. Ulrike Kassun dreht den Bücherständer um 180 Grad. Auf das, was dahinter ist, kommt es ihr an. Die Blicke der Zwölft- und Dreizehntklässler wandern zwischen Schwarz-Weiß-Fotos: Ulrike Meinhof als fröhliches Kind. Als nachdenkliche Jugendliche. Als Journalistin mit Kurzhaarschnitt. Mit starrem, leerem Blick bei ihrer Festnahme.

Kassun ist Mitarbeiterin des Kinder- und Jugendliteraturzentrums „LesArt“. Der Verein möchte jungen Lesern mit „biographischen Spaziergängen“ durch das Leben von ProtagonistInnen einen lebendigen Zugang zu Literatur bieten. Ortsbegehungen, Originaldokumente, authentische Ton- und Videoaufnahmen von in Büchern beschriebenen Ereignissen sollen die bröckelnde Literaturzielgruppe der 13- bis 20-Jährigen von den Fernseh- und Computerbildschirmen in die Leseecke zurücklotsen. Und aus dem Kino. Vom „Baader Meinhof Komplex“ kann man sich in zweieinhalb Stunden durch zehn Jahre RAF hetzen lassen. Kassun hofft, die Jugendlichen für eine 330 Seiten lange Biografie über Ulrike Meinhof begeistern zu können: „Lieber wütend als traurig“.

„Findet ihr Ulrike Meinhof eigentlich schön?“, fragt Kassun in die Runde vor dem Bücherständer. Sie sucht einen persönlichen Zugang zu der Person hinter dem Klischee. Darin gleicht sie dem Autor der Meinhof-Biografie Alois Prinz, der mit „Lieber wütend als traurig“ an einem Tabu rüttelt. Anstatt Meinhof als niederträchtige RAF-Terroristin zu verteufeln, macht er ihren Lebens-Wandel von der gläubigen Pazifistin und erfolgreichen Journalistin zur Terroristin nachvollziehbar. Prinz schreibt gegen den Reflex an, Verstehen-Wollen mit Gutheißen gleichzusetzen – eine Gratwanderung zwischen Empathie und Sympathie.

Seit vier Jahren nimmt Kullan Schüler mit auf den „biographischen Spaziergang“ zu Meinhof und der RAF. „Viele sind überrascht, dass es so etwas wie ‚deutschen Terrorismus‘ gab“, sagt sie, „und dass das alles noch gar nicht so lange her ist.“ Politiklehrer Florian Quaiser, der seinen Leistungskurs an diesem Morgen begleitet, hat bemerkt, dass Symbole der RAF bei Jugendlichen zwar „teilweise einen oberflächlichen Kult-Status“ besitzen. „Im Grunde wissen sie von der RAF-Zeit aber auch nicht mehr als von der Kaiserzeit.“ Sanga Lenz, 18, hat eine Erklärung dafür: „Im Geschichtsunterricht kommen 1968 und die RAF überhaupt nicht vor – da dreht sich ja fast alles ums Dritte Reich.“ Die interessanten Fragen in dieser Nicht-Unterrichtseinheit über Meinhof lauten: Welchen Bezug haben Jugendliche, die 1990 und später geboren sind, überhaupt zu der politisierten Zeit in der Folge von 1968? Können sie die damalige Faszination der RAF verstehen, nachvollziehen, was in Ulrike Meinhof vorgegangen ist?

Jann Scheferling, 18, der die RAF-Vorkämpferin erst durch Prinz’ Biografie kennengelernt hat, kann die Eskalation der Gewalt nicht nachvollziehen. Vielleicht, sagt er, war es ein Zusammenspiel von Meinhofs Sturheit und einem extremen Gruppenzwang. „Sie wirkte auf mich am Ende des Buches psychisch sehr mitgenommen.“ Die ursprünglichen Intentionen der 68er findet er jedoch verständlich. „Dass man sich als ohnmächtiger Teil des Ganzen fühlt und darum gegen ein als ungerecht empfundenes System auflehnt, das kommt in dem Buch gut rüber.“ Auch heute kennen Jugendliche dieses Ohnmachtsgefühl, sagt Scheferling, „aber um sich politisch zu engagieren, sind die meisten zu individualistisch und selbstbezogen“. Sich selbst nimmt er von dieser Generationskritik nicht aus. Immerhin: Nun, da er volljährig ist, will er wählen gehen.

Für Sanga Lenz bleibt Ulrike Meinhof rätselhaft: „Ich kann nicht verstehen, wie man sein ganzes Leben, seine Freunde und seine Kinder für etwas wie die RAF aufgibt.“ Die Zeit der Studentenunruhen und der hoch politisierten Jugend erscheinen ihr fern und fremd. „Bevor ich mich für etwas derart engagieren könnte, müsste ich zu hundert Prozent wissen, dass es das Richtige ist.“ Viele der Linken hätten sich doch damals auf Parolen oder Marx berufen, ohne wirklich Ahnung gehabt zu haben, „einfach, weil’s cool war“. Sie selbst sei politisch nicht sehr interessiert, sagt sie. Ein bisschen aus Bequemlichkeit. Aber auch, weil die Welt heute zu unübersichtlich geworden sei. „Wenn überhaupt, würde ich mich wohl für Umweltschutz oder Tiere einsetzen. Oder gegen Nazis.“

Früher sei die Stimmung politischer gewesen, findet Max Werner. Aber es sei damals auch einfacher gewesen, sich für Politik zu begeistern: „Heute machen alle Realpolitik, und viele Dinge verstehen nur noch Experten.“ Wenn überhaupt, würde er sich bei den Globalisierungskritikern von Attac engagieren. Doch, leider, sei er „nur so ein Laberfuzzi, der nicht aktiv wird“, sagt der 17-Jährige über sich selbst. Aber 1968 hätte man es ja auch einfacher gehabt. „Heute haben die meisten Jugendlichen eben keine großen Utopien mehr.“

Dessen war sich wohl auch Alois Prinz bewusst. Er hat seine Meinhof-Biografie bewusst als Jugendbuch konzipiert. „Lieber wütend als traurig“ versteht er als „Geschichte über Utopien“ und möchte zeigen, „warum sie lebenswichtig sind und warum sie lebenszerstörend sein können“. MARKUS WANZECK