Das wirkliche Gewicht der Worte

Die haptische Schönheit der Schrift: Mit Bleisatz arbeiten heute nur noch wenige Schriftsetzer. Meist haben sie eigene Werkstätten, besonders von Künstlern und Architekten wird ihre Arbeit geschätzt. Ein Besuch bei Gutenbergs Erben

Der Siegeszug digitaler Technik war das Ende der Bleizeit. Die meisten Setzer arbeiten heute als Grafiker und Layouter. Mit ein paar Ausnahmen

VON MARLENE GIESE

Das S hat eine ungewöhnliche Schlaufe. Und das Y ist etwas weniger tief ins Papier gedrückt. Doch Sonya Winterberg ist überaus zufrieden mit ihrer neuen Visitenkarte. Sie steht im Atelier von Martin Schröder in Berlin-Prenzlauer Berg und fährt vorsichtig mit dem Zeigefinger über die Schrift. „Fühlt sich toll an“, sagt sie und strahlt. Die Karte sieht ein bisschen aus wie ein alter Fahrschein. Das Papier ist bräunlich und an einer Seite leicht perforiert. Unperfekt. Doch genau das, was anderen ein Makel ist, ist Winterberg viel wert: Handarbeit. Nach einem wie Martin Schröder hat sie in Berlin lange suchen müssen. Er ist einer der letzten Schriftsetzer. Der Siegeszug digitaler Technik und computergesteuerter Lichtsetzmaschinen in den 1970er Jahren bedeutete das Ende der sogenannten Bleizeit. Die meisten Setzer arbeiten heute als Grafiker und Layouter. Mit Ausnahmen, versteht sich.

Wie Martin Schröder ist auch Lutz Nessing seinem Beruf treu geblieben. Er öffnet ein Fenster seiner Werkstatt. Die Sonne steht schon tief hier in Berlin-Adlershof. Ein Lichtkegel lässt den Staub auf der alten Heidelberger tanzen, als er das übergeworfene Laken abzieht. Nessing ist groß und trägt in der Werkstatt einen roten Overall. Den angeklemmten Lupenaufsatz seiner Brille, den er bei feinen Arbeiten benötigt, hat er hochgeklappt. An der Wand hängt der Kaufvertrag für die Heidelberger Cylinder, die sein Großvater vor über 50 Jahren angeschafft hat. Die schwarze Maschine ist mindestens dreimal so groß wie Schröders Handpresse in Prenzlauer Berg.

Um seine Leidenschaft, das Drucken, hat sich Nessing heute allerdings kaum gekümmert. Viel telefoniert hat er und gemeinsam mit einem Anwalt einen Brief an den Vermieter verfasst. Der hatte ihn vor fünf Jahren hergelockt, Prämien für die Unterstützung einer kulturellen Einrichtung bekommen und ihm nun zum Ende des Monats die Räume gekündigt. „Lutz, guckst du noch mal über den Brief, bevor wir ihn rausschicken?“, ruft seine Tochter Lina von der Empore. Sie hilft ihm ein bisschen bei der Büroarbeit und natürlich ist es gut, dass sie ihm auch moralisch zur Seite steht. „Ja ja, ich komm gleich“, murmelt er und erzählt weiter von den letzten großen Aufträgen.

„Vor drei Wochen hab ich ein großformatiges Sketchbook für Sir Norman Forster gemacht. Fünfhundert Stück. Voriges Jahr kamen zwei Kunden extra aus Australien angereist.“ Weil man nur hier noch Formate bis ein Meter dreißig drucken kann. Und „weil das was ganz Besonderes ist, wenn das Blei sich in den Büttenkarton presst, dass du die Schattierung, das Relief sehen kannst. Ist wie mit ’nem guten Wein, den erkennt auch nicht jeder.“ Der Lupenaufsatz kippt manchmal runter, wenn er heftig nickt. Man sieht Lutz Nessing an, dass er die Zeiten vermisst, in denen der Wert der sauberen Handarbeit noch nicht Kennern und Liebhabern vorbehalten war.

Heute, wo ein auf der Tastatur geschriebenes Wort mehr oder weniger sofort via Internet auf der ganzen Welt lesbar wird, scheint die Arbeit eines Schriftsetzers unendlich langsam. Zeile für Zeile setzt Nessing jeden Buchstaben im Winkelhaken, während im Hintergrund ein Hörspiel läuft.

Jeder seiner Setzkästen hat dieselbe Ordnung, sodass er die richtigen Lettern fast blind findet. Er passt Abstände ein und befestigt sie, bis nichts mehr aus dem Rahmen fällt. Matrizen, die Negativformen für die Buchstaben, aus denen die Stempel hergestellt werden, könne er hier auch selbst gießen, erzählt er nicht ohne Stolz. Es riecht nach Farbe, Stahl und Fettschmiere und für einen Moment fühlt man sich zurückversetzt in die Zeit Johannes Gutenbergs, der vor über einem halben Jahrtausend die Buchkunst mit beweglichen und wiederverwendbaren Lettern – zumindest im europäischen Raum – erfand und mit seiner Technik die Demokratisierung des Wissens über Landesgrenzen hinweg ins Rollen brachte.

Auf dieses namhafte Erbe stützt sich auch der Schriftsteller und diesjährige Kleist-Preis-Träger Max Goldt, der sein jüngstes Buch in Blei setzen und von Hand binden ließ. Die winzigen Essays, Gedichte und Mini-Dramen wurden von Martin Schröder typografisch interpretiert. Die limitierte Auflage mit dem sprechenden Titel „Atlas van de nieuwe Nederlandse vleermuizen“ („Atlas der neuen Niederländischen Fledermäuse“) setzt auf die haptische Schönheit der Schrift. So gibt man den Worten wieder Gewicht.