Geschönte Geschichte

Corry Guttstadt hat eine Forschungslücke geschlossen: In „Die Türkei, die Juden und der Holocaust“ untersucht sie die wechselvolle Geschichte der türkischen Juden in Europa und belegt die widersprüchliche Politik der Türkei

Geschichtsinteressierte Istanbul-Touristen, die unweit der Galatabrücke das jüdische Museum in der ehemaligen Zulfaris-Synagoge besuchen, erhalten dort vielfältige Einblicke in die jüdisch-türkische Geschichte. Eindrucksvoll sind vor allem die auf Schautafeln präsentierten historischen Fakten. So erfährt der Besucher, dass unter den osmanischen Herrschern die Lebensbedingungen für Juden durchweg besser waren als im christlichen Europa. Über viele Jahrhunderte war das osmanische Reich und die nachfolgende kemalistische Republik ein wichtiger Fluchtpunkt für das verfolgte europäische Judentum. Unvergessen ist bis heute die Aufnahme zahlreicher sephardischer Juden, die nach dem Abschluss der Reconquista 1492 ihre spanische Heimat verlassen mussten.

Beeindruckend sind auch die präsentierten Fakten zur NS-Zeit. Die türkische Republik bot einigen deutsch-jüdischen Wissenschaftlern Exil und eine neue berufliche Perspektive an türkischen Universitäten. Schließlich wird darauf verwiesen, dass türkische Diplomaten alles in ihrer Macht Stehende unternommen hätten, um Juden vor der Vernichtungsmaschinerie der Nazis zu schützen.

Dieses überaus positive Bild, das auch Teil der offiziellen türkischen Geschichtsdarstellung ist, wird durch die Studie „Die Türkei, die Juden und der Holocaust“ der Hamburger Turkologin Corry Guttstadt massiv infrage gestellt. Guttstadt bestreitet in ihrer gut gegliederten 520 Seiten umfassenden Untersuchung keineswegs die eingangs dargestellten Fakten. Jedoch zeigt sie auf, dass die offizielle Geschichtsschreibung gravierende Auslassungen aufweist.

Der historische Bogen, den die Hamburger Turkologin spannt, reicht vom Osmanischen Reich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Mittelpunkt ihrer materialreichen Untersuchung stehen jedoch die Jahre von 1923 bis 1945. Die präsentierten Fakten zeigen deutlich, dass die Lage der Juden in der neu gegründeten türkischen Republik von Anfang an prekär war. Die rücksichtslose Türkisierungspolitik der ersten zwei Dekaden führte zu gravierenden Diskriminierungen der nichtmuslimischen Bevölkerung, die von Zwangsassimilierung, Berufsverboten bis zum Entzug der Staatsbürgerschaft reichten.

Doch es blieb nicht nur bei administrativen Maßnahmen. Mancherorts schlug die nationalistische Mobilisierung, die sich in erster Linie gegen die christlichen Minderheiten richtete, auch in offenen Antisemitismus um. So verübten türkische Nationalisten am 2. Juni 1934 einen gut vorbereiteten Angriff auf das jüdische Wohnviertel von Edirne. Wenige Tage später kam es in weiteren thrakischen Städten zu pogromartigen Ausschreitungen, in dessen Verlauf jüdische Geschäfte und Wohnhäuser vom antisemitischen Mob überfallen und ausgeraubt wurden.

Das nationalistische und teilweise antisemitische Klima in den Zwanziger- und Dreißigerjahren führte schließlich dazu, dass viele jüdische Familien die Türkei verließen, um in Mittel- und Südeuropa ein sicheres Auskommen zu finden. Die Sicherheit war jedoch höchst trügerisch, denn ab 1940 gerieten sie zunehmend in den Machtbereich des NS-Regimes.

Im Oktober 1942 stellte das NS-Regime ein Ultimatum an alle neutralen und verbündeten Staaten, dass die Repatriierung ihrer jüdischen Bürger forderte. Die Regierung in Ankara reagierte hierauf mit der Ausbürgerung tausender türkischer Juden und wies die Konsulate an, keine Gruppenrepatriierungen durchzuführen. Das dennoch zahlreiche türkische Juden gerettet werden konnten, ist dem entschiedenen Engagement einzelner türkischer Diplomaten zu verdanken und dem enormen internationalen Druck, den jüdische Organisationen auf die türkische Regierung ausübten.

Corry Guttstadt präsentiert in ihrer bahnbrechenden Studie zahlreiche bislang nicht bekannte Fakten, die überaus deutlich zeigen, dass das offizielle Geschichtsbild einer durchweg judenfreundlichen türkischen Politik einer grundlegenden Revision bedarf. Das Buch wird in der Türkei mit Sicherheit sehr kontrovers verlaufende Diskussionen auslösen. Michael Kiefer

Corry Guttstadt: „Die Türkei, die Juden und der Holocaust“. Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2008, 520 Seiten, 26 Euro