Die neuen Selbständigen

Immer mehr Menschen in Berlin werden ihr eigener Chef. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die einen entgehen damit drohender Arbeitslosigkeit. Andere wollten sich schon immer selbst verwirklichen. Drei Begegnungen

VON CLAUDIA GOLDBERG

Teestube statt Computer

Im hohen Bogen fließt der hellgelbe Tee in die Tasse. Egor Sviridenko (28), ehemaliger IT-Vertriebsmanager und seit einem Jahr Teehausbesitzer, gießt ihn aus einem Kännchen ein, das in kräftigen Farben leuchtet. Der eingeschenkte First Flush, die erste Ernte des bekannten schwarzen Tees aus der indischen Region Darjeeling, wird im Frühjahr geerntet. Egor erzählt gern über die 140 Sorten Tee, die er in seinem kleinen Reich, dem Teehaus Tschaikowsky im Bötzowviertel in Prenzlauer Berg, anbietet.

Rückblende: Aix-en-Provence 2006. Egor Sviridenko – ausgebildeter Fremdsprachenpädagoge aus Weißrussland – arbeitet bereits das fünfte Jahr im IT-Bereich. Nachdem er drei Jahre in München gearbeitet hatte, schickt ihn seine Firma nach Südfrankreich. Dort kümmert er sich um die Eröffnung einer neuen Dependance.

„Leute spielen ihre Rollen. Im Endeffekt geht es nur um das Geldverdienen. Wenn man Geld verdienen möchte, muss man in IT gehen“, fasst Egor sein früheres Arbeitsleben zusammen. Die Erfüllung ist der Job nicht. Egor leidet unter dem Druck, den sein Vorgesetzter ausübt, und muss gleichzeitig seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen antreiben. Freundschaften kann er kaum schließen.

Heute, in Berlin, sieht das anders aus: Egor verknüpft durch seine Arbeit im eigenen Teehaus Arbeitswelt und Privatleben. Seine beiden besten Freunde haben der IT-Branche ebenfalls den Rücken gekehrt und arbeiten mit ihm zusammen.

Aus Gästen, die häufig kommen, werden gute Bekannte. Einige von Egors Freunden stellen ihre Fotografien in den Räumen aus: schwarz-weiße Schatten auf Augenhöhe an der Wand. Jazz-Musiker, Klezmer-Bands, ein japanischer Pianist – Konzerte gibt es oft in der Teestube. Die Veranstaltungen sind beliebt, dennoch läuft das Tagesgeschäft nicht gut. Das Teehaus hat im September 2007 eröffnet. Es wird ein paar Jahre brauchen, um sich zu etablieren – oder auch nicht. Die Gäste geben den Ausschlag für den Erfolg, und die sind manchmal launisch und kommen nicht mehr nach monatelangen, fast täglichen Besuchen.

Kreativ – mit den Kunden

Auch Malte Christensen (28) und Robert Engelsmann (29) sind auf der Suche nach dem Kunden. Wobei, nicht irgendein beliebiger Kunde soll es sein, sondern der passende. Der, der ebenso wie die Kommunikationsdesigner Spaß hat am Entwicklungsprozess. Die beiden Selbständigen wissen, was sie ablehnen. Robert formuliert es so: „Studienabsolventen brauchen zwei Jahre bis sie zur Maschine, zum Rädchen werden. Wir haben mal gesagt, wir wollen kein Rädchen werden, wir möchten weiter diese Designprozesse erleben, die es auch im Studium gab.“

Vor eineinhalb Jahren gründeten Christensen und Engelsmann ihr eigenes Unternehmen und zogen im Februar dieses Jahres in die Josetti-Höfe in Mitte ein. In den lichtdurchfluteten Büroräumen konkurrieren kreatives Chaos und planerisches Schaffen. Dem Chaos, der Ideenfindung, wird viel Zeit gewidmet. Auf den beiden riesigen Schreibtischen im hinteren Zimmer stapeln sich die Papiere. Im vorderen Raum lädt ein Sofa zum Ideenaustausch oder zu einer Pause vom kreativen Prozess ein.

Die Bio-Limonade liegt griffbereit im Kühlschrank. Am Boden nahe der Couch: verstreute Tuschezeichnungen – ein Büro wie eine Spielwiese. Oft wird diese Spielwiese erweitert, Berlin dient als Ideenpool.

Ein vierstündiger Spaziergang durch die Metropole gibt Anregungen und ermöglicht den beiden Freunden Luft zu holen, wenn die Ideen das Büro zu sprengen drohen. Die Selbständigkeit erlaubt diese freie Zeiteinteilung. „Man ist ständig in Bewegung, auch privat“, begeistert sich Christensen für den Ideenfindungsprozess, „man ist immer gefordert, muss ständig darüber nachdenken, aber es macht tierisch viel Spaß.“

Der Kunde ist ebenfalls gefordert. Er soll sich einlassen auf den Prozess, der zum Ergebnis führt. „Ja, ich hab eine Idee. Das soll so und so aussehen und grün und blau sein“, mit solchen Aussagen könne er nichts anfangen, erklärt Christensen. Vielmehr möchten die Kommunikationsdesigner das bereits bestehende Kundenkonzept hinterfragen, um es dann zu optimieren – natürlich zusammen mit dem Kunden.

76 Euro Stundenlohn empfiehlt die Allianz der deutschen Designer, ein Berufsverband selbständiger Designerinnen und Designer. Ein Start-up-Paket mit Briefpapier, Programmheft und Webvisitenkarte haben Christensen und Engelsmann für weniger Geld für eine Tanzschule in Lübeck entworfen. Es geht ihnen nicht nur um Wirtschaftlichkeit, auch die Sympathie spielt eine Rolle. Eine Tanzschule kann nicht so viel zahlen wie ein großes Unternehmen –und nicht mit jedem Unternehmen wollen die Kreativen zusammenarbeiten. Von Lohndumping halten die beiden jedoch nichts. Sie ärgern sich über etablierte Firmen, die Kollegen, oft Studenten, für zehn Euro die Stunde arbeiten lassen und dadurch die Löhne für die gesamte Branche drücken.

Tür in die Mauer machen

Die Philosophin Clara Welten (40) arbeitet einige Büros entfernt von den Kommunikationsdesignern, ebenfalls in den Josetti-Höfen. In ihrem deutsch-französischen Atelier für kreatives Leben bietet sie Philosophiekurse und Schreibseminare auch auf Französisch an. Die Gründung ihres kleinen Unternehmens 2007 war nicht ganz freiwillig: Welten hat nach jahrelanger Ausbildung und Berufserfahrung festgestellt, dass sie nicht in ein gängiges Angestelltenverhältnis passt.

So bekam sie während der Promotion Schwierigkeiten, da sie sich nicht darauf beschränken wollte, bestehende Theorien zu reproduzieren. Sie ließ es bleiben. Statt den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, „macht“ Welten immer wieder „eine Tür in die Mauer“, wie sie es nennt. Mit einem Forschungsstipendium ging sie nach Paris und arbeitete dort anschließend als Lehrerin, Übersetzerin und Schriftstellerin.

Neun Jahre später, 2004, kehrte sie der rastlosen Stadt den Rücken und ließ sich mit ihrem Lebenspartner in Berlin als Selbständige nieder.

Doch die Konkurrenz ist groß: 140.000 selbständige Kreative sind 2004 bei Künstlersozialkasse, der Pflichtversicherung für Künstler und Publizisten, gemeldet. 2007 liegt die Zahl schon bei rund 160.000, davon arbeiten allein in Berlin 10.000.

Gerade hier ist die Konkurrenz groß: Raum für Projekte und Ideen gibt es immer noch reichlich, die Stadt pulsiert, ist ständig im Wandel – viele wollen mitmischen. Günstige Mieten machen die Entscheidung leicht, herzuziehen. Andererseits schließen einige Kreativateliers wieder genauso schnell, wie sie geöffnet haben. Zurück bleiben leere Ladenräume, die bald wieder von anderen Selbständigen besetzt werden.

Wer sich zwei Jahre halten kann, hat gewonnen. Die Verdienstaussichten sind allerdings mager. Zu Jahresbeginn lag, laut Künstlersozialkasse, das durchschnittliche Jahreseinkommen der Versicherten bei 12.616 Euro.

Seit 2005 zeigt sich ein neuer Trend, der zum stetigen Wachstum der Zahl der Freiberufler beiträgt: die Existenzgründung aus der Arbeitslosigkeit. Manfred Feit, Pressesprecher der Arbeitsagentur, nennt sie „die Flucht nach vorn“, mit der Arbeitsuchende dem sozialen Abstieg in Form von ALG II entkommen wollen. Ohne den Gründungszuschuss der Arbeitsagentur hätten viele gar nicht die Möglichkeit, ihren Wunsch umzusetzen.

Um sich besser etablieren zu können, gründete Clara Welten 2007 ihr Atelier in den Josetti-Höfen. Der helle Raum, ausgelegt mit Teppichen und bestückt mit zwei bequemen Sofas, lädt zum Verweilen ein. Clara gelingt es nun, alle ihre Fähigkeiten unter einen Hut zu bringen und nicht gestückelt hier und da feilzubieten. Viele der Stammkunden nehmen an all ihren Kursen teil und bringen sogar ihre Kinder mit. Während die Philosophin mit den Eltern über Foucault diskutiert, spricht sie mit den Kleinen über Religionen oder den Tod.

Malte Christensen, Robert Engelsmann, Egor Sviridenko und Clara Welten eint trotz unterschiedlicher Wirkungsfelder die Vision eines besseren Arbeitslebens. In diesem Arbeitsleben hat die eigene Persönlichkeit ihren Platz. Welten arbeitet gern allein und vielseitig, Christensen und Engelmann schätzen Flexibilität und nehmen sich Zeit für den Entwicklungsprozess ihrer Konzepte. Und Sviridenko sagt zu seiner Teestube: „Du tust etwas Gutes für dich – und besonders für die Leute, die sich vielleicht wie du irgendwo im Leben verloren fühlen.“