Gibt es Befreiung vom Schrecken?

Überlebender und selbstkritischer Linker: Jorge Semprún hielt im Bundestag die Rede zum Holocaust-Gedenken

Jorge Semprún, der gestern anlässlich des Holocaust-Gedenktages vor dem Bundestag sprach, war selbst von 1943 bis 1945 Häftling im KZ Buchenwald. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung durch die Gestapo hatte er als junger Kommunist in der Résistance gekämpft, ein zwanzigjähriger Philosophiestudent aus einer großbürgerlich-republikanischen Familie, die vor Francos Truppen nach Frankreich geflohen war. Nach seiner Befreiung ins Nachkriegs-Paris zurückgekehrt, fühlte er, dass nicht die literarische „Aufarbeitung“ seiner Erlebnisse, sondern politische Aktivität von der Erinnerung an den Schrecken befreien könnte. Als Kader der Kommunistischen Partei Spaniens stieg er schnell die Karriereleiter hoch, wurde Mitglied des Politbüros und war jahrelang verantwortlich für die Untergrundarbeit in Spanien.

Seine Kritik am fortbestehenden stalinistischen Charakter der kommunistischen Parteien, an ihrem mangelnden Willen, aus dem Stalinismus demokratische Konsequenzen für die Partei und für ihre Strategie zu ziehen, verdichtete sich, als er die Gulag-Berichte von Solschenizyn und Scharlamow las. Im Jahre 1964 wurde er aus der Partei ausgeschlosen, ein Vorgang, dem er später mit seinem „Tagebuch des Federico Sánchez“ ein beklemmendes Werk widmete. Seit dieser Zeit war er ein freier Schriftsteller, unterbrochen nur durch eine mehrjährige, nicht sehr glückliche Tätigkeit als parteiloser Kulturminister in der Regierung von Felipe González.

Seit den 60er-Jahren hat Semprún versucht, die Welt der Konzentrationslager und die Welt des Gulag als Ausdruck desselben Phänomens, des Totalitarismus, zu begreifen. „Wer über den Stalinismus nicht reden will, soll über den Faschismus schweigen“, diese Abwandlung eines Horkheimer-Satzes wurde bei Semprún zu einer Kampfansage an eine Intellektuellenkultur, die sich weigerte, das Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen – die Sowjetunion als despotisches Unterdrückungssystem. Von dieser Haltung ist auch sein Buch „Was für ein schöner Sonntag“ bestimmt, ein Werk, mit dem er die von ihm selbst als „naiv-antifaschistisch“ bezeichnete Grundhaltung seines ersten Buches, „Die Reise“, korrigiert (gemeint ist sein Transport nach Buchenwald).

Auch die radikalen Studenten der 68er-Zeit hat er wegen ihrer uneingestandenen Allmachtsfantasien in zwei Romanen mit bitterem Spott überzogen. Er unterstützte die demokratischen Bewegungen im Osteuropa der 80er-Jahre und sparte nicht mit Kritik an der Politik der westlichen Regierungen, die seiner Meinung nach nur auf die realsozialistischen Eliten setzten. Nach 1990 gehörte er während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien zu den entschiedenen Befürwortern einer militärischen Intervention des Westens in Bosnien. Wie er auch später die Ablehnung des Nato-Luftkriegs gegen Serbien durch viele Linke, auch antitotalitäre Linke, nicht teilte.

Semprún hat Stalinismus und Faschismus nie gleichgesetzt, glaubt aber noch heute, dass die Differenz beider Systeme nur verstanden werden kann, wenn man sie beide als totalitär kennzeichnet. In den 80er- und 90er- Jahren war es sein Ziel, die Selbstkritik der Linken zu fördern, um so der linken Politik zu einer nichtutopischen, reformerischen Perspektive auf der Basis des Kapitalismus zu verhelfen.

CHRISTIAN SEMLER