Moral bis Muddi

Einen Haufen Talent brachte Gisela May aus ihrem Elternhaus mit – und die politische Einstellung. Am 31. Mai 1924 wurde sie in Wetzlar an der Lahn als Tochter der Schauspielerin Käthe May und des Schriftstellers und Dramaturgen Ferdinand May geboren. Als eine antifaschistische, wie sie selbst sagt: „linke“ Familie litten die Mays unter dem Hitlerregime.

1942 beendete Gisela May in Leipzig, wo sie aufwuchs, die Theaterschule. Ihr Debüt feierte sie in Ludwig Thomas „Moral“. Nach drei Jahren im Ensemble des Mecklenburgischen Staatstheaters und einer Zeit am Landestheater Halle gelang ihr der Sprung nach Berlin, wo sie von 1951 bis 1962 unter Wolfgang Langhoff am Deutschen Theater arbeitete.

Obwohl sie schon jahrelang Bertolt Brechts Lieder gesungen hatte, kam sie erst 1962 ans Berliner Ensemble, wo sie bis 1990 blieb. Dort spielte sie unter anderem dreizehn Jahre lang die „Mutter Courage“. Als Anna I. in Brechts „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ spielte sie unter anderem an der Mailänder Scala.

Internationales Renommee erlangte Gisela May aber vor allem durch ihre Interpretationen der Songs und Gedichte von Brecht und Kurt Weill, Kurt Tucholsky und Erich Kästner. Mit diesen Liederabenden gastierte sie in ganz Europa, den USA, Kanada und Australien. Sie galt als First Lady des politischen Chansons. Zu hören ist sie auf rund vierzig Schallplatten, CDs und Hörbüchern – eines davon ist Thea Dorns „Marleni“ (mit Gisela Uhlen). An der Berliner Humboldt Universität, an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ (der auch einer ihrer Lehrmeister war) und bei Kursen im Ausland vermittelte Gisela May ihr Wissen und Können dem Nachwuchs.

Bekannt (und beliebt) wurde Gisela May auch durch ihre Film- und Fernsehrollen. Sie debütierte 1951 in der Filmadaption von Arnold Zweigs „Das Beil von Wandsbek“. Im DDR-Fernsehen war sie lange Gastgeberin und Chansonnière der DFF-Serie „Die Pfundgrube“. Im Mai 2002 hatte der Film „Die Schönste“ mit ihr und Manfred Krug in Berlin Premiere: Gedreht 1958, wurde der Film in der DDR verboten und ein Jahr später ins staatliche Filmarchiv verbannt. Seit 1993 gibt sie die „Muddi“ von Evelyn Hamann in der Krimikömödienserie „Adelheid und ihre Mörder“ (NDR).

Gisela May hat im Laufe ihres Lebens viele Auszeichnungen bekommen: die Clara-Zetkin-Medaille (1962), den Grand Prix du Disque Internationale (1968), den Nationalpreis I. Klasse der DDR (1973 und 1988) und den Vaterländischen Verdienstorden in Gold (1980). 1991 wurde sie mit dem Bundesfilmpreis in Gold und 2000 mit dem Verdienstorden des Landes Berlin ausgezeichnet. Gisela May war Mitglied der SED und von 1961 bis 1965 Vorsitzende des Bezirksvorstandes Berlin der Gewerkschaft Kunst. Ab 1972 war sie ordentliches Mitglied der Akademie der Künste der DDR.

1956 heiratete Gisela May den Journalisten Georg Honigmann, der eine Tochter in die Ehe mitbrachte. Sie bezeichnete diese Jahre als „die harmonischsten und glücklichsten in meinem Leben“. Nach knapp zehn Jahren trennte sich das Paar. Von 1965 bis 1974 hatte Gisela May eine Beziehung mit dem Philosophen Wolfgang Harich (1923–1995).

Vor kurzem sind Gisela Mays Erinnerungen erschienen: „Es wechseln die Zeiten“ (Militzke-Verlag Leipzig, 320 Seiten, 24,80 €), eine überarbeitete und erweiterte Version ihres Buches „Mit meinen Augen“ (1977). GES