Sein flammendes Wesen

Ein Bildnis des Dichters als alter Mann: Der britische Literaturprofessor Jay Parini erzählt dramatisch und aus verschiedenen Perspektiven das letzte Lebensjahr von Leo Tolstoi

VON MARION LÜHE

Einen Roman nennt Jay Parini „Tolstojs letztes Jahr“, und im Nachwort betont er noch einmal ausdrücklich den fiktionalen Charakter des Buches, als wollte er schmallippigen Literaturkritikern schon mal vorsorglich den Wind aus den Segeln nehmen. Und doch beansprucht der amerikanische Autor und Professor für Englische Literatur, der schon Walter Benjamins tragisches Lebensende mittels literarischer Einbildungskraft rekonstruiert hat, ein hohes Maß an historischer Authentizität. Seine Dokufiktion, die sich auf die Tagebücher und Briefe Leo Tolstois sowie Aufzeichnungen von Personen aus dem engsten Umkreis des Schriftstellers stützt, folgt „so nah wie möglich der Küstenlinie jener tatsächlichen Ereignisse des letzten Lebensjahres Tolstojs“.

Stoff genug jedenfalls bietet dieses Jahr 1910, das der weltberühmte Autor von „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ auf seinem Landgut Jasnaja Poljana nahe der Stadt Tula verbrachte. Seit seiner religiösen Wende in den Achtzigerjahren trat Graf Tolstoi, der von seinen Anhängern als Prophet verehrt und umlagert wurde, öffentlich für Gewaltverzicht und gegen soziale Ungerechtigkeit ein. Sein christlich-mystisch inspirierter Traum vom einfachen Leben führte allerdings zu Konflikten nicht nur mit dem Zar und der offiziellen Kirche, sondern auch mit seiner Frau Sofia. Mit allen Mitteln bekämpfte die Gräfin seine Pläne, zugunsten der Allgemeinheit auf seinen Besitz und die Urheberrechte an seinem Werk zu verzichten. Ihre hysterischen Anfälle und Beschuldigungen trieben Tolstoi schließlich in die Flucht. Auf der Reise erkrankte er an einer Lungenentzündung und starb im Häuschen des Bahnhofsvorstehers von Astapowo, umlagert von Schaulustigen, Journalisten und Fotografen aus aller Welt.

Abwechselnd schlüpft Jay Parini in die Rolle der Menschen, die mit Tolstoi zusammenlebten: seiner Ehefrau Sofia, die eifersüchtig jeden Schritt des Zweiundachtzigjährigen verfolgt; ihres Erzrivalen, des „Teufels“ Wladimir Tschertkow, mit dem sie nicht nur um die Urheberrechte am Werk Tolstois, sondern auch um seine erotische Aufmerksamkeit kämpft; seines jungen Privatsekretärs Walentin Bulgakow, der zwischen Verehrung für seinen Meister und der Liebe zu der Tolstoianerin Mascha hin- und hergerissen ist; des Arztes Makowizki, der brav Temperatur, Puls und allerlei weise Sprüche seines berühmten Patienten notiert; und schließlich eines Haufen von Nachkommen Tolstois, unter denen seine Lieblingstochter, die in lesbischer Beziehung mit ihrer Freundin Warwara lebende Alexandra (Sascha), herausragt.

Zweifellos versteht es der Autor, die Ereignisse im letzten Lebensjahr Tolstois ebenso dramatisch wie publikumswirksam zu inszenieren. Streckenweise liest sich das Buch, als sei es auf seine künftige Verfilmung hin konzipiert – tatsächlich kommt der prominent besetzte Film zum Buch 2009 in die Kinos. Dazwischen gibt es immer wieder besinnliche Momente, etwa wenn Tolstoianer spirituelle Weisheiten verkünden, die auch heute in ihrer Mischung aus Christentum und Buddhismus, Vegetarismus und „Simplify your life“ den Nerv der Zeit treffen. Für das nötige Lokalkolorit sorgen arme Bauern mit großem Herzen und glutäugige Kosakenmädchen mit schmalen Hüften. Natürlich darf in dem hollywoodreifen Historiengemälde das Erotische nicht fehlen, das angesichts des fortgeschrittenen Alters der Tolstois gern auch in die Erinnerungen an bessere Zeiten verlagert wird. Und das klingt dann so: „Seine Backen glühten vor junger Männlichkeit“, oder: „Er hob das feurige Schwert der Liebe und nahm mich. Und ich gab mich ganz seinem groben und flammenden Wesen hin.“

Unverkennbar ist Parinis Anspruch, uns Tolstoi als einen Menschen aus Fleisch und Blut vorzuführen. Doch dass dieser in einem fort sabbert und hustet, bringt einem die Figur – Fiktion hin, Faktentreue her – kein bisschen näher. Er habe, versichert der Autor, Zitate aus Briefen und Tagebüchern übernommen und sie dem Tonfall seines eigenen Tolstoi angepasst. In einem Roman ist das sein gutes Recht, aber leider stimmt der Sound einfach oft nicht. Selbst in einem frei erfundenen historischen Roman, der im ländlichen Russland zu Beginn des letzten Jahrhunderts spielt, sollten den Figuren Sätze wie „Liebe bedarf keiner Analyse“ oder Bemerkungen zur „Größe ihres Egos“ nicht über die Lippen kommen. In keinem Augenblick hat man den Eindruck, als spräche hier Tolstoi oder seine Frau, seine Tochter oder sein Sekretär. Tatsächlich ist es immer nur einer, der spricht: Jay Parini.

Jay Parini: „Tolstojs letztes Jahr“. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk. Verlag C. H. Beck, München 2008, 357 Seiten, 19,90 Euro