Aus- und Einwanderung gefürchtet

In den baltischen Ländern macht sich der „Irlandfaktor“ bemerkbar: Qualifizierte Arbeitskräfte wandern ab, die aber für eine Modernisierung der einheimischen Wirtschaft dringend gebraucht würden

Flughafen Riga, Sonntagmittag kurz nach elf. Maris Kurists wartet auf den Ryanair-Flug nach Liverpool. Seit eineinhalb Jahren arbeitet der 28-jährige Elektroingenieur in England. War zum 50. Geburtstag seiner Mutter wieder einmal zu Hause: „Das nächste Mal wird’s wohl Weihnachten werden.“ So wie Kurists haben über 100.000 LettInnen seit dem EU-Beitritt 2004 ihre Heimat verlassen. Das ist sehr viel für ein Land mit gerade einmal 2,2 Millionen EinwohnerInnen – rund ein Zehntel der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter. Einen Bevölkerungsrückgang zwischen 10 und 13 Prozent erwartet das „Berlin-Institut“ für die Baltenrepubliken Estland, Lettland und Litauen bis 2030.

Die es bisher in den Westen zog, vorwiegend nach Irland, Großbritannien und Skandinavien, und die ähnlich wie Kurists keine konkreten Pläne für eine Rückkehr haben, sind die Jungen und Qualifizierten: TechnikerInnen, ÄrztInnen, FacharbeiterInnen. In Lettland machte sich der „Irlandfaktor“ in manchen Branchen deshalb auch schnell bemerkbar. Schon vor zwei Jahren im Bausektor, dann im Gesundheitsbereich und nun insgesamt im öffentlichen Sektor. Obwohl die Löhne in den baltischen Staaten mittlerweile auch kräftig gestiegen sind, kann man ein, zwei Flugstunden entfernt immer noch das Vier- bis Fünffache verdienen.

Der nun spürbar werdende wirtschaftliche Abschwung im Baltikum dürfte zur vorübergehenden Entspannung führen, was den akuten einheimischen Arbeitskräftemangel angeht und den Lettland, Estland und Litauen vorwiegend aus der Ukraine, Weißrussland und Russland abzudecken versuchten – mittels eines „Gastarbeitersystems“, das eine befristete Arbeitserlaubnis für drei, vier- oder sechs Monate vorsah. Das Misstrauen, das in Teilen von Politik und Gesellschaft gegen die aus Sowjetzeiten „geerbten“ eigenen russischen Minderheiten noch immer herrscht, gilt als Hauptgrund für das Bemühen, mit Quotenregelungen und bürokratischen Hindernissen eine regelrechte Einwanderung zu vermeiden.

Doch so lassen sich die demografischen Probleme mit kräftig gesunkener Geburtenrate und stark überalterter Bevölkerung nicht lösen, meint Elina Egle, Generaldirektorin des lettischen Arbeitgeberverbands LDDK. In den jungen Republiken sei die Unruhe über die Zukunft der nationalen Identität zwar nachvollziehbar. „Aber wir haben ja auch 700 Jahre deutscher und 50 Jahre sowjetischer Herrschaft überstanden“, so Egle. Wichtiger sei es, darüber nachzudenken, wie man aus Auswanderern wieder Rückwanderer machen könne.

„Die Lebensbedingungen müssten sich schon entscheidend verbessern“, lautet die Antwort von Maris Kurists. Ein Teufelskreis, meint Jonas Čičinskas, Politikwissenschaftler an der litauischen Universität Kaunas: Denn die baltischen Ökonomien müssten dringend auf zukunftsweisende Branchen umstellen, doch die Auswanderung qualifizierter AkademikerInnen erschwere wiederum die notwendige Modernisierung.

REINHARD WOLFF