Brieffreunde der Dichtung

Als das Lesen noch geholfen hat: Mary Ann Shaffer hat mit „Deine Juliet“ einen Briefroman aus der britischen Nachkriegszeit geschrieben – mit hervorragendem Gespür für Britishness

Deine Juliet“, der erste Roman der 1934 geborenen Autorin Mary Ann Shaffers, ist ein wunderbares und ganz reizendes Buch, das auch Großmüttern gefallen dürfte, denn es ist – im besten Sinne – ein bisschen altmodisch. Die Form des Briefromans, die im Zeitalter von E-Mail- und SMS-Romanen leicht angestaubt wirkt, erinnert einen an die Zeiten, als man seinen Alltag samt Gefühlen noch wohlüberlegt und handschriftlich zu echtem Papier brachte, das sich dann auf den umständlichen Weg zu seinem Adressaten machte, der dasselbe Dokument schließlich in Händen halten würde. So war das früher, in der guten alten Zeit, die in Wirklichkeit selbstverständlich auch so ihre Tücken hatte kurz, bevor in diesem Fall die Rahmenhandlung einsetzt, sowieso alles andere als gut gewesen war. Wir befinden uns im Jahr 1946 im ausgebombten London. Abgesehen davon, dass mehr Briefe geschrieben wurden, lesen die Leute bei Shaffer natürlich auch mehr als heute, und „Deine Juliet“ ist also auch ein Buch über Literatur. Besonders postmodern ist es dabei aber nicht, denn Literatur dient hier, wie auch der Roman selbst, einfach zur fröhlich-behaglichen Unterhaltung, und wenn sie diesen Zweck nicht erfüllt, dann braucht man sie nicht.

Juliet Ashton, Anfang dreißig, unverheiratet, freie Journalistin und Schriftstellerin, hat den Krieg einigermaßen überstanden. Zwar wurde auch ihre Wohnung ausgebombt, aber da war sie zum Glück nicht zu Hause, und ein paar gute Freunde hat sie auch noch. Am regelmäßigsten schreibt sie ihrer besten Freundin Sophie und deren Bruder Sidney, der auch ihr Verleger ist, und bald tritt auch noch Markham Reynolds Jr. in ihr Leben, der gutaussehende Erbe eines amerikanischen Verlagsimperiums, der ihr den Hof macht. Aber weil nicht alles Gold ist, was glänzt, und weil Juliet gerne Briefe schreibt und außerdem auf der Suche nach einem neuen Buchprojekt ist, kommt ihr der Brief eines gewissen Dawsey Adams gerade recht.

Dawsey lebt auf Guernsey, einer der zum britischen Hoheitsgebiet gehörenden Kanalinseln, die im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt worden waren, und wie überall im Vereinigten Königreich, so gibt es 1946 auch dort wenig Bücher zu kaufen. Eines aber hat Dawsey beim örtlichen Buchhändler erstanden, und das hatte vorher Juliet gehört. Weil ihm die ausgewählten Essays von Charles Lamb so gut gefallen haben, möchte Dawsey wissen, ob Juliet ihn zwecks der Bestellung weiterer Werke Lambs an eine gut sortierte Londoner Buchhandlung verweisen könne. Juliet kann, vor allem aber möchte sie mehr über den „Club der Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf“ erfahren, den Dawsey in seinem Brief beiläufig erwähnt. Wie sie erfährt, sind nicht nur der Kartoffelschalenauflauf, sondern auch der Literaturclub aus der Not der deutschen Besatzung heraus entstanden (genauer gesagt war der Anlass ein verbotenes Schweinebratenessen der Einheimischen, das vertuscht werden musste), doch während man inzwischen wieder auf schmackhaftere Gerichte zurückgreifen kann, trifft sich der Literaturclub nach wie vor.

Da Juliet gerade von der Times den Auftrag erhalten hat, einen Artikel über „den praktischen, moralischen und philosophischen Wert des Lesens“ zu verfassen, entspinnt sich eine lebhafte Brieffreundschaft zwischen Juliet und den verschiedenen Mitgliedern des Lesezirkels. Bald schon macht sich Juliet selbst nach Guernsey auf, wo sie mit offenen Armen empfangen wird. Die Insel ist – natürlich – wunderschön, zumal im Vergleich mit der zerstörten Hauptstadt, und so genießt Juliet, und mit ihr die Leserin, Guernsey und die Gesellschaft seiner Einwohner, die durch ihre Briefe schon zuvor lebhaft Gestalt angenommen hatten. Shaffer gelingt es, jedem Briefschreiber seinen eigenen Stil zu verleihen, und der von Juliet, der bei weitem fleißigsten Schreiberin, ist herrlich geistreich und nie arrogant – selbst dann, wenn der Landwirt Jonas Skeeter nach der Lektüre der „Selbstbetrachtungen“ des Marc Aurel diesen keineswegs „tiefgründig“ finden kann, sondern ihn vielmehr abkanzelt als „ein altes Waschweib – ständig in Sorge, ob er vielleicht einen Knoten im Hirn hat“.

Dass auch dieser Roman selbst nicht so tiefgründig ist, macht aber gar nichts; spätestens als Juliet ihre Briefe von Guernsey aus verfasst, kommen beim Lesen echte Urlaubsgefühle auf. Kein Wunder, dass sie am Ende auf der Insel bleibt. Man lässt sie nur wehmütig dort zurück und würde gern bald mehr über sie lesen. Doch dazu wird es nicht mehr kommen, denn Mary Ann Shaffer ist im Februar dieses Jahres verstorben. In „Deine Juliet“ schreibt sie als Amerikanerin nicht nur über England, sondern wagt sogar, das Verhältnis der Engländer zum deutschen Feind im Zweiten Weltkrieg zu thematisieren. Wäre Shaffer Engländerin gewesen, dann wären die Deutschen wohl nicht so gut weggekommen, doch ansonsten beweist Shaffer ein hervorragendes Gespür für Britishness.

Abgesehen vom Titel, der an eine Liebesschmonzette erinnert, ist es Margarete Längsfeld und Martina Tichy hervorragend gelungen, diese Nuancen, wie auch die Besonderheiten jeder einzelnen Briefbeziehung bei der Übersetzung nicht verlorengehen zu lassen. In der Originalausgabe wurde neben Mary Ann Shaffer auch noch ihre Nichte Annie Fiery Barrows als Autorin genannt – und so haben sich AutorInnen- und ÜbersetzerInnen-Duo hier gleichermaßen bewährt. Vielleicht sind diese Koproduktionen kein Zufall, denn schließlich gehören auch zum Briefeschreiben immer zwei. MARGRET FETZER

Mary Ann Shaffer: „Deine Juliet“. Aus dem Englischen von Margarete Längsfeld und Martina Tichy. Kindler, Hamburg 2008. 273 Seiten, 19,90 Euro