„Schicksalsverwaltung“

Plötzlich stimmten die Wohnadressen nicht mehr: Der Dokumentarfilmer Gerd Kroske erzählt, warum er immer wieder zu einigen Straßenfegers aus Leipzig zurückkehrte. Die Brotfabrik zeigt seine Trilogie

INTERVIEW DIETMAR KAMMERER

taz: Gerd Kroske, „Kehraus, wieder“ ist Ihr dritter Film über eine Gruppe von Menschen aus Leipzig, die sie 1990 zum ersten Mal porträtierten und sechs Jahre nach der Wende wieder besuchten. Es war nie Ihre Absicht, eine Langzeitbeobachtung zu machen. Was bewog Sie dennoch, immer wieder zurückzukehren?

Gerd Kroske: Der erste Film, „Kehraus“, kam einfach deswegen zustande, weil ich die Beteiligten kennen lernte. Die arbeiteten als Straßenfeger, kriegten als Pauschalkraft vier Mark und haben zwölf Stunden durchgefegt. 1996 war diese Art von Arbeit zur Dienstleistung geworden und besser bezahlt. Da flogen Menschen mit brüchigen Biografien und mit deftigem Alkoholkonsum, wie ich sie zeige, erst einmal raus. Wer sich in die neue Arbeitswelt nicht integrieren konnte, hatte keine Chance.

Das war nicht, was man den Leuten 1990 versprochen hatte?

Das Schöne am Dokumentarfilm ist ja, dass man in größeren Zeitbögen erzählen kann. Da bot sich das einfach an, weil sich seit der Wende bis Mitte der Neunzigerjahre extrem viel geändert hatte. Der Auslöser für den dritten Film war eine Vorführung der ersten beiden Teile in Leipzig. Wir haben versucht, alle Beteiligten wieder zusammenzuholen, und plötzlich stimmten die Wohnadressen nicht mehr. Ich erfuhr dann, dass Stefan gestorben war. Ich fand schließlich sein Grab, aber weil das Sterbe- und das Begräbnisdatum mehrere Monate auseinander lagen, wurde ich stutzig und begann zu recherchieren.

Das Verhältnis von persönlichem Schicksal und dessen behördlicher Verwaltung ist ja zentral im Film. Einerseits fallen diese Leute durchs dünner werdende soziale Netz, andererseits hat man nicht den Eindruck, dass die Bürokratie zurückgehen würde: In den Filmen geht es ständig um Akten, Institutionen, behördliche Vorgänge. Wird das Prekariat nur verwaltet, statt an der Beseitigung zu arbeiten?

Es gibt ja jede Menge Hilfsangebote, um solche Leute aufzufangen. Aber das Problem ist, wenn man in dieser Art von Schicksalsverwaltung nicht selbst aktiv wird, ist man schnell draußen. Das bemerkt dann auch keiner. Dann passiert das eben, dass jemand vier Monate tot zu Hause liegt.

In „Kehraus, wieder“ lernen wir Caterina, die Tochter von Gabi kennen, die im Kinderheim aufgewachsen ist und noch heute weit entfernt von ihrer Mutter im Westen lebt. Wie haben Sie Caterina gefunden?

Caterina hatte den Kontakt zu ihrer Mutter eigentlich durch „Kehrein, Kehraus“ wiedergefunden, als der im Fernsehen gezeigt wurde und sie ihre Mutter darin erkannte. Sie hat mich dann angeschrieben und wollte auch den ersten Film sehen. Es stellte sich heraus, dass sie gar nicht wusste, dass Gabi einmal bei der Stadtreinigung gearbeitet hat. Als wir mit den Dreharbeiten für den dritten Film begannen, kam sie zufällig ohnehin nach Leipzig.

Henry, der dritte Protagonist, scheint sich mit seiner Situation ganz gut arrangiert zu haben, auch wenn seine Strategie darin besteht, Stunden am Tag vor dem Rechner in irgendwelchen Online-Welten zu verbringen.

Henry kommt immer so durch, er fällt immer auf die Füße. Er hat eine gewisse Bauernschläue entwickelt, um sich durchzuschlagen. Gabi auch, trotz ihrer Probleme, in denen ja auch Alkohol eine Rolle spielt. Wenn sie aber einen Brief vom Amt bekommt, dann schmeißt sie den nicht in die Ecke, sondern absolviert das ganze Programm. Dann hängt sie ihr Goldkettchen um und geht auf die Behörde. Sie verpasst keinen Termin, und wenn sie mal einen verpasst, lässt sie sich krank schreiben, damit man ihr nicht an den Karren fahren kann. Aber der Aufwand für diese Ämtergänge ist im Umfang inzwischen für sie fast wie ein Vollzeit-Job.

Hat Gabi Aussicht, irgendwann einmal wieder an einem richtigen Arbeitsplatz zu landen?

Für die Fußball-WM hatten sie ihr einen Ein-Euro-Job ausgerechnet als Tresenkraft angeboten. Wenn man Gabi nur einmal richtig ansieht, kann man sich doch bei so einem Vorschlag nur an den Kopf fassen! Wie man auf so eine Idee kommen kann. Wobei Gabi eine ganz andere Ader hat, nämlich in der Betreuung von Alten. Sie hat eine starke soziale Ader. Wenn ein Amt einmal begreifen würde, dass das die richtige Art von Beschäftigung für sie wäre, etwa in der Altenpflege, dann wäre ihr schon viel geholfen.

Haben sich die Protagonisten denn mit dem Abstellgleis abgefunden?

Die haben seit Mitte der Neunziger alle Varianten von ABM-Jobs und was weiß ich durchgemacht. Die wurden schon sehr früh schon vor Hartz IV darauf konditioniert. Man hat nicht den Eindruck, dass sie das als totalen Absturz empfinden. Eigentlich ist ihre Situation von der Struktur her jetzt klarer, es gibt ein ausführliches Reglement und man weiß, wie man sich dazu verhalten muss. Und die Illusion, jemals wieder eine ernsthafte Arbeit zu bekommen, hat natürlich keiner.

Kroskes Trilogie der Straßenkehrer läuft im Kino der Brotfabrik 15.–21. Mai. www.brotfabrikberlin.de

Fotohinweis:Gerd Kroske, geboren 1958 in Dessau, absolvierte eine Lehre als Betonwerker und arbeitete als Telegrammbote und in der Jugendkultur, bevor er ein Regiestudium in Potsdam-Babelsberg aufnahm. 1990 entstand seine Dokumentation „Kehraus“ über Straßenfeger in Leipzig, zu denen er 1996 in „Kehrein/Kehraus“ und 2006 mit „Kehraus, wieder“ zurückkehrte. FOTO: BERND HARTUNG