Aus grauer Städte Mauern

Auf der Burg Waldeck waren sie 1964 eingeladen – jene Musiker, die keine Lust auf das hatten, was sie als Einerlei empfanden, als kulturelle Trostlosigkeit, als depressiv stimmendes Heiterkeitsdiktat. Also auf Schlager wie „Liebeskummer lohnt sich nicht“, Siegestitel der Deutschen Schlagerfestspiele 1964 in Baden-Baden, mit Siw Malmkvist als Sängerin. Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hanns Dieter Hüsch, Hein & Oss Kröher und alle anderen Urväter der späteren Liedermacherszene.

Sie kamen zusammen, weil sie die deutsche Nachkriegskultur der selbstvergessenen Gutgelauntheit, wie sie im Schlager drückend sich mitteilte, nervte. Sie wollten nicht allein unterhalten, sondern etwas mitteilen, der Welt mit musikalischen Mitteln darlegen, wie schlecht sie funktioniere. Sie fanden auf der im Hunsrück romantisch gelegenen Burg Waldeck ein Asyl, das auf Anhieb seitens der Veranstalter mit medialen Interessen kurzgeschlossen wurde: Sender wie der Südwestfunk zahlten für ihre Aufnahmen – und sicherten so das Überleben dieses Festivals.

In Wahrheit fand auf der Burg Waldeck auch eine Wiedergeburt des bildungsbürgerlichen Liederkanons statt. Man fürchtete gemeinsam den Kulturimperialismus der USA und wollte zurück zur deutschen Kultur der allein gültigen Dringlichkeit und der bodenständigen Echtheit. Sie erkannten im Populären bestenfalls ein Seditativum, ein Beruhigungsmittel – und sich selbst als Wachmacher: Die Burg Waldeck kann auch als Synonym für die Floskel „Es ist fünf vor zwölf!“ gelesen werden.

Denn jenseits der international orientierten Bänkelsängerszene existierte längst eine Kultur des Antigeistigen: im proletarischen Rock ’n’ Roll, im Beat, auch im Jazz oder im Blues. Während aber Jugendliche und Jungerwachsene aus den industriellarbeitenden Schichten sich Vergnügungen hingaben und sich ästhetisch eher an den Beatles, den Rolling Stones, am Girl Pop (Peggy March, France Gall oder Sandie Shaw) orientierten und damit sich von der Dumpfbackenkultur der Eltern abgrenzten, hatte der bildungsbürgerliche Nachwuchs einen anderen Kanon hinter sich zu lassen: die Klassik vor allem, aber auch die neutönende Musik. Die Liedermachertreffen auf der Burg Waldeck waren der Versuch, der deutschen Musikunterhaltung so etwas wie textlichen Sinn einzuhauchen.

1968 spaltete sich das Waldeck-Festival: Während Künstler wie Reinhard Mey, 1964 beim Debüt noch mit reichlich Beifall bedacht, als unpolitisch ausgebuht wurden, avancierten seine Kollegen wie Degenhardt und Süverkrüp zu Helden eines Liedguts, das in einem Chanson allenfalls ein Ornament zum politischen Kampf erkennen wollte, keinen künstlerischen Beitrag als solchen, der auch unabhängig von irgendeinem politischen Sinn existieren könne.

Die Kritiker der am französischen Chanson geschulten Lieder Meys erkannten in Liebesliedern allenfalls Ablenkungsmanöver vom Klassenkampf, wie es damals in zeitgeistigen Illustrierten wie Pardon hieß. Genuss und der Wunsch nach Idylle, nach der Liebe zum Moment galten den auf Militanz sinnenden Kadern der Achtundsechzigerszene als verdächtig.

Literatur: Detlef Siegfried: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der Sechzigerjahre, Wallstein, Göttingen 2006, 840 Seiten, 49 Euro; Hotte Schneider: Die Waldeck … von 1911 bis heute. Lieder, Fahrten, Abenteuer, Verlag für Berlin-Brandenburg, 2005, 552 Seiten, 29,80 Euro. JAF

Noch nie von Burg Waldeck gehört? Das darf doch nicht wahr sein – schließlich war dieses Chanson- und Folklorefestival eine Art Urknall deutscher Festivalkultur. German Woodstock!

VON MARTIN REICHERT

Stell dir vor, es ist Festival auf Burg Waldeck im Hunsrück, und keiner geht hin. Ähnlich frisch wie dieser Spruch mag manchem vorkommen, was an diesem Ort heute getrieben wird: Liederfeste zu Pfingsten, der Peter-Rohland-Singewettstreit, Kurse zu alternativem Bauen. Musiziert wird dort zwar immer noch, aber jüngere Menschen wissen ganz einfach nicht, was es mit der Waldeck – dem „deutschen Woodstock“ – auf sich hat. Und gehen stattdessen lieber zu „Rock am Ring“ oder zum „Bizarre Festival“, um es mal tüchtig krachen zu lassen am Wochenende.

Die einstigen Protagonisten, ob nun Reinhard Mey, Hannes Wader oder Franz Josef Degenhardt, kennen sie höchstens von den Plattencovern ihrer Eltern oder aus Fernsehsendungen im Dritten Programm: Liedermacher. Freundliche Opas, deren Anekdoten sie, eventuell bei einem gemeinsam gerauchten Joint, entnehmen könnten, dass die Jugendkultur in Deutschland nicht erst neulich erfunden wurde – sondern lange vor ihrer Zeit, nämlich zur vorletzten Jahrhundertwende.

Die heutige deutsche Festivalkultur nahm ihren Anfang im Umfeld einer Burg der deutschen Jugendbewegung – des Stammsitzes des Nerother Wandervogels, einer in den Zwanziger- und Dreißigerjahren avantgardistischen Variante der sogenannten Bündischen Jugend, die später, wie alle Jugendbünde, wenn auch in diesem Fall nicht ohne Widerstand, (zwangsweise) in der Hitlerjugend aufging.

Eine Jugendkultur, in der man große Stücke auf das Volkslied hielt und in kurzen Hosen stramm durch die ganze Welt marschierte – und in der langhaarige Kiffer wie später auf der Waldeck eigentlich nicht vorgesehen waren. Entsprechenden Widerstand leisteten die nach 1945 wiederbelebten Nerother dem neuen, unerwünschten Stil, der sich auf ihrer Burg einzunisten anschickte, verbunden mit dem Anspruch, das deutsche Lied neu zu erfinden. Genauer: es von braunen Verunreinigungen zu befreien und in in einen neuen, internationalen Kontext zu stellen. Man wühlte alte Vaganten- und Volkslieder aus der Vorkriegszeit hervor und schrieb neue, hörte auch jene Musik, die in Deutschland längst verstummt war – jiddische Folklore –, und lud Teilnehmer aus der ganzen Welt ein: das neue deutsche Lied im Chor mit dem französischen Chanson und dem amerikanischen Folksong.

Lieder, die als Vehikel für politische und gesellschaftliche Inhalte dienen sollten – in Abgrenzung von der damals bereits virulenten Rockmusik einerseits und dem deutschen Schlager andererseits. Eine ernsthafte Liedkultur fernab des Hedonistischen, tief verwurzelt indes im Geiste deutscher Innerlichkeit und Romantik: Es waren vornehmlich die Kinder des deutschen Bildungs- und Kleinbürgertums, die sich von der Waldeck erhofften, einen frischen, neuen Geist zu atmen, fernab der spießigen – so der Kampfbegriff – Alltagskultur verschlafener deutscher Städte am Sonntagnachmittag.

Der jedoch so ganz frisch nicht war, handelte es sich doch eher um Variationen von Themen, die schon die jungen Generationen vor ihnen beschäftigt hatten: die freie Liebe, die Erhaltung der Umwelt, das alternative Leben, die Verbundenheit mit einer Natur, die man als authentischen Gegenpol zur menschenfeindlichen Asphaltkultur der Städte verstand und die es doch in dieser reinen Form nicht mehr gab in Mitteleuropa. Es war eine modernisierungs- und kulturkritische Haltung, insofern verdrahtet mit antikapitalistischen und antiamerikanischen Affekten, die jenen Geist ausmachte – eine Art gitarrengestützte Begleitmusik auf dem deutschen Sonderweg zwischen östlichem Kollektivismus und westlichem Individualismus, die bereits zu Zeiten des Urwandervogels und der Bündischen Jugend der Zwanzigerjahre erklungen war. Deutsche Innerlichkeit, die jedoch – sehr zum Missfallen des Nerother Wandervogels – versuchte, Anschluss an die internationalen Bewegungen zu finden, und zwar unter linken Vorzeichen: Diese Form des Liedes sollte das ganze Volk zur Revolution tragen, das freilich lieber Heino hörte, der seine ersten Erfolge mit Liedern der Bündischen Jugend gefeiert hatte.

Während jedoch die Nerother das Waldeck-Festival mit Sabotageakten zu beerdigen suchten, taten die politisierten Kreise rund um den SDS, die 1968 die Organisation des Festivals übernommen hatten, das Ihrige, um dem bunten Treiben ein Ende zu bereiten. Schluss mit lustig: Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert – aus und vorbei. Wer sich in aller Ernsthaftigkeit der Frage stellen muss, ob die Unterdrückung des Sexualtriebs für das Anliegen der Weltrevolution nicht zwingend notwendig sei, will vielleicht doch lieber gleich zurück in die langweilige Stadt am Sonntagnachmittag.

Das deutsche Woodstock hat es dann auch in Wirklichkeit nicht gebracht, es war das amerikanische Original, das sich in die kollektive Erinnerung gebrannt hat. Denn dort hatte man die tatsächlich zeitgemäße Synthese vollbracht: eine Kombination aus „Gegenkultur“ und „Kommerz“. Man lebte einfach das Richtige im Falschen und schaffte es so, eine nachhaltige Breitenwirkung zu erzielen, die auch die proletarischen Stände nicht ausschloss. Doch auch in Deutschland etablierte sich im Laufe der Siebziger eine vergleichsweise konsensuale Festivalkultur. Die Krautrockfestivals wurden zu einer Institution und bildeten den Nährboden, auf dem sich die späteren Großfestivals à la „Rock am Ring“ mit ihren Wurstbuden, Tinnefständen, stiernackigen Security-Mitarbeitern und exorbitanten Eintrittspreisen entwickeln konnten. Sie sind die wahren Volksmusiktreffen, denn hier trifft der Geist des Schützenfestes auf die angepunkten Vertreter der Gegenkultur, es spielen Indie-Rockbands und Proll-Metal-Bands, man trinkt Bier und raucht Joints. Gemeinsam unter freiem Himmel. Und wenn der leptosome Agenturbrillenträger dann doch mal eins vom lederbehosten Fleischergesellen auf die Mütze bekommt, ist die Security nicht weit. Sie hat sowieso alle Hände voll zu tun, denn in letzten Zuckungen tauchen sowohl der antikapitalistische Geist als auch der nationalistische Impuls im Rahmen dieser Jugendmassenveranstaltungen immer mal wieder auf: Mal brennen Dixie-Klos, Symbole der Festivalkommerzkultur, mal werden rechte Parolen gegrölt und Deutschlandfahnen geschwenkt.

Die großen Musikfestivals sind die letzten Bastionen einer Massenjugendkultur, die es längst nicht mehr gibt. Die Jugendkulturen von heute sind so ausdifferenziert, dass sogar die Trendscouts der Industrie große Schwierigkeiten haben, ihren Verästelungen zu folgen – so ist denn der Tocotronic-Klassiker „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ auch in diesem Kontext verständlich: als Ausdruck der Sehnsucht junger Menschen nach Gemeinschaft, die in einer auf Individualität gebürsteten Gesellschaft immer weniger greifbar wird. Manchmal aber doch: am Wochenende, wenn Festival ist.

Und die Liedermacher? Zupfen noch immer, so sie denn noch leben – allen voran Reinhard Mey – der Einzige unter den Burg-Waldeck-Figuren, der Erfolg über die beste Zeit der Liedermacher hinaus hatte und hat. Weil er mehr Poet als Agitator war? Allesamt haben sie, die Waldeck-Stars von einst, aber junge Konkurrenz bekommen – von rechts. Auf NPD-Parteitagen greift man heute gern mal zur Gitarre.

Doch lauter sind die Singer-Songwriter, die Hamburger Diskurspopper und die politisch ambitionierten Hiphopper. Das politische Lied kann man nicht neu erfinden, aber – weiterentwickeln.

MARTIN REICHERT, 35, ist taz.mag-Redakteur