„Lehre. Bundeswehr. Kind. Das schien alles vorbestimmt“

Am Tag des Attentats auf Rudi Dutschke wurde Karl-Heinz Dellwo 16. Sieben Jahre später war er RAF-Mitglied bei der Botschaftsbesetzung 1975 in Stockholm. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?

INTERVIEW WOLFGANG GAST

taz: Herr Dellwo, können Sie sich noch erinnern, was Sie am 11. April 1968 gemacht haben, dem Tag des Dutschke-Attentats?

Karl-Heinz Dellwo: Da ich am 11. April Geburtstag habe, wird es wohl so sein, dass ich meinen 16. Geburtstag gefeiert habe.

Welche Bedeutung hatte und hat Rudi Dutschke für Sie?

Für einen 16-Jährigen hatte er zunächst einmal nur eine diffuse Bedeutung. Er zählte zu den Leuten, fern von uns, die einen anzogen. Zum Zeitpunkt des Attentats wohnte ich in einem kleinen Ort im Schwarzwald, den ich gehasst habe, und war mit Fluchtfantasien beschäftigt. In der Erinnerung scheint mir mehr als das Attentat auf Dutschke die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei der Demonstration gegen den Schah von Persien präsent. 1968 kam vieles zusammen. Jeden Abend gab es Vietnam, es gab den Mai in Paris, Robert Kennedy wurde ermordet, Anfang April wurde Martin Luther King erschossen. Ich habe in der Provinz gesessen und gedacht, das ist das unglücklichste Schicksal, das einen ereilen kann, während in den Städten die Revolte ausbricht. Dass da auf einmal Studenten vor dem Springer Verlag auftraten und „Enteignet Springer“ riefen, das hat mich begeistert. Ich habe das damals weniger als politische, sondern als eine Jugendbewegung wahrgenommen. Mein Bedürfnis war, dazuzugehören, ich wollte meinen Platz finden in diesem Aufbruch. Ich könnte auch sagen: Nie war das Leben so aufregend wie in der Zeit, in der wir gedacht haben, es ist etwas offen und wir brechen auf. Das war grundsätzlich unser Empfinden.

Fritz Teufel von der Kommune 1 hat vor Jahren einmal gesagt, ohne das Attentat wäre Rudi Dutschke wahrscheinlich an der Seite von Ulrike Meinhof in den Untergrund gegangen.

Fritz Teufel kannte Rudi Dutschke persönlich und mag es anders beurteilen können als ich. Ich jedoch habe erhebliche Zweifel, ob er diesen Schritt gemacht hätte. Bei Massen, die zur Militanz bereit waren, wäre er sicher einer ihrer – auch militanten – Führer gewesen. Aber Militanz ohne Massen, wie es die RAF riskiert hat, das kann ich mit ihm nicht verbinden. Hier glaube ich eher, dass der andere theoretische Kopf aus dem SDS, Hans-Jürgen Krahl, zeitweilig einen solchen Schritt hätte machen können. Dutschke hat später den „Marsch durch die Institutionen“ propagiert. Die Gewalt im Klassenkampf war theoretisch akzeptiert, aber ohne Massenrelevanz kam bei ihm ein Kompromiss raus. Konkret den bewaffneten Kampf aufzunehmen, ist noch mal was anderes.

Was waren Ihre Motive für den Gang in die Illegalität und zur Roten Armee Fraktion?

Zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte ich die sichere Einschätzung: Das hier ist ein faschistischer Staat. Diese Wahrnehmung hat sich aus verschiedenen Ereignissen zusammengesetzt. Dazu gehörten der Tod von Benno Ohnesorg, die ungebremste Hetze der Springer-Presse, die Berufsverbote und die brutalisierte Gewalt der Polizei. Permanent eine Lebensstrukturierung von oben und von außen. Der Vietnamkrieg spielte eine zentrale Rolle. Wir haben Militanz und Befreiung als Einheit begriffen. Kein Mensch unter den Linken und Linksliberalen hat die Befreiungsbewegungen in Angola oder Algerien in Frage gestellt. Die Kolonialzeit war vorbei, die Länder mussten sich gewaltsam befreien. Ganz ähnlich war es in Lateinamerika. Im Unmittelbaren am meisten geschreckt haben mich die damaligen Arbeitsstrukturen und ein verordneter Lebensablauf. Das ist der Tod, habe ich mir gedacht, da kommst du nie wieder heraus. Ich war deshalb auch gar nicht so unglücklich, als ich aus meiner Lehre herausgeflogen bin. Mag sein, dass da auch ein Bedürfnis dahintersteckte, die Adoleszenz auf ewig zu verlängern. Man konnte aber auch das Grauen sehen, auf das das alles hinauszulaufen schien.

Worauf?

Gerade im Schwarzwald hast du Jugendliche gesehen, die mit 18 Jahren aus der Lehre kamen, mit neunzehneinhalb von der Bundeswehr zurückkehrten und die mit 20 dann ihr erstes Kind bekamen. Das schien alles wie vorbestimmt. Dem wolltest du dich nicht anpassen. Es waren nicht nur die Verbrechen des Staates oder des Imperialismus, es war zuerst die Normalität, die einen abgeschreckt hat.

Die RAF tritt 1970 mit der Befreiung des inhaftierten Andreas Baader und dem Satz „Natürlich darf geschossen werden“ in Erscheinung. Das war doch eine ziemliche Zäsur?

Das Konzept Stadtguerilla war für mich eine neue Methode, eine, die die eigene Radikalität und das Bedürfnis nach langfristiger Konzeption und Strategie zusammenbrachte. Wir dachten uns, was Che an Radikalität und Jugendlichkeit aufgebracht hat, das stellen wir hier auch auf die Beine. Meine Entscheidung, zur RAF zu gehen, ist konkret zwischen 1972 und 1975 herangereift. Da war der Putsch in Chile und vor allem der Tod von Holger Meins im Hungerstreik. Es gab für mich einfach einen Punkt, an dem ich wusste: Entweder ziehst du jetzt Konsequenzen aus deinen Erkenntnissen, oder das Ganze wird bei dir zerfallen. Ich war sicher: In der Etappe, in der man stehen bleibt, kann man an seinen Überzeugungen und an seiner Radikalität nicht festhalten. Es musste ein Schritt nach vorne gemacht werden. Die Konfrontation sollte alltäglich und unumkehrbar werden.

Haben Sie sich dabei die Frage gestellt, ob man Töten darf?

1972 hatte ich eine lange Diskussion zu dieser Frage mit einer Person, die den bewaffneten Kampf vertrat. Damals habe ich gesagt, dass wir als Erstes diese Frage beantworten müssen. Damals waren wir noch unentschieden. 1973 war ich wegen einer Hausbesetzung ein Jahr im Gefängnis, eine Zeit, in der ich mich viel mit politischer Theorie beschäftigt habe. Dabei hat mich unter anderen der Arbeiterführer Max Hoelz sehr beeindruckt. Er hat in seiner Autobiografie „Vom weißen Kreuz zur roten Fahne“ geschrieben, dass die Linken immer verlieren, weil die Rechten zu allem bereit und fähig sind, die Linken dagegen immer Skrupel haben und nicht in der Lage sind zu sagen: „Wir wollen siegen, wir wollen diesen Kampf und wir sind bereit, dafür Verantwortung zu tragen.“

Markiert das nicht einen Unterschied, dass die Linke eben nicht bereit ist, alles zu machen?

Das soll sie auch nicht. Hier ging es darum, dass ihr die Entschiedenheit fehlt, zu sagen, wir müssen die herrschende Klasse niederschlagen, wenn sich etwas ändern soll. Das hat man in Chile gesehen. Damals gab es den eher lockeren Spruch, Wahlen bewirken nichts, denn würden sie etwas bewegen, wären sie verboten. Und plötzlich trifft das zu. Der Sozialist Salvador Allende, demokratisch gewählt, wird 1973 auf Druck der US-Konzerne Hand in Hand mit dem Geheimdienst CIA gestürzt. Zu dieser Zeit habe ich mit anderen den Film „Schlacht um Algier“ gesehen. Er hat uns ungeheuer aufgewühlt und unser Bedürfnis nach moralischer Eindeutigkeit und klarer Positionierung im Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit sehr verfestigt.

Sie waren wegen des Überfalls auf die Botschaft in Stockholm und zweifachen Mordes zwanzig Jahre in Haft. Gegen Ende ihrer Haftzeit haben Sie der RAF vorgeworfen, bei der Anschlagsserie von 1977 nur noch in militärischen Kategorien gedacht zu haben. Trifft das nicht auch auf Ihre Botschaftsbesetzung zu?

Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass ich schon die Aktion in Stockholm als Wendung von einer sozialen Radikalität hin zu einer militärischen sehe. Die Stockholm-Aktion hat schon das Existenzielle, die Eindeutigkeit in den Entscheidungen und die Kompromisslosigkeit nach vorne gestellt und nicht das Soziale einer Gegenwelt. Das hat einige beeindruckt, die ebenso radikales Bewusstsein in den Fragen von Eindeutigkeit und Kompromisslosigkeit ausgedrückt gesehen haben. Da bricht es auch mit der RAF. Sie hatte eine Plausibilität, wo sie sich gegen den Kriegsimperialismus richtete. Angesichts des Vietnamkrieges war vieles verständlich. Als das als Vermittlung wegbrach, wie es schon bei unserer Aktion war, tauchte die Frage der Relation der Gewaltanwendung auf. Wir haben das weggeschoben, weil wir unbedingt an einer revolutionären Perspektive festhalten wollten.

War es nicht eine selbst gestellte Falle, sich als kriegführende Partei zu begreifen?

Die Frage nach 1968 war doch, wie können wir unsere Vorstellung von einem anderen Leben durchsetzen. Es gab zwar kulturelle Umwälzungen, die angesichts des früheren gesellschaftlichen Klimas nicht gering waren. Aber dann, zum Beispiel mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968, haben sich diese Prozesse fest gefressen. Es hätte noch so viele neue Demonstrationen geben können, am Status quo hätten sie aber nichts mehr zu ändern vermocht. Die Frage stand an, wie können wir der Revolte eine Perspektive geben? Das fragten sich nicht nur die späteren RAF-Mitglieder. Ich finde es auch richtig, dass man sie nicht einfach aufgeben wollte. Von daher finde ich es lächerlich, wenn uns heute vorgeworfen wird, ihr habt doch damals auch gesehen: Es gibt keine Revolte mehr, warum habt ihr es nicht bleiben lassen und euch angepasst.

Mit dem Konzept Stadtguerilla hat sich die RAF von weiten Teilen der Linken entfernt. Die sogenannten neuen sozialen Bewegungen konnten damit nichts anfangen.

So stimmt das nicht. Was gab es denn damals an neuen sozialen Bewegungen? Die kamen erst später. 1969 gab es drei Stränge: Das waren die K-Gruppen, das war der Marsch durch die Institutionen und es waren die Militanten, die sich in RAF, Bewegung 2. Juni und Revolutionäre Zellen aufspalteten. Parallel dazu vielleicht noch in den Anfängen die Frauenbewegung.

Herr Dellwo, Sie sind gerade 56 Jahre alt geworden. Was würden Sie einem 21-jährigen Karl-Heinz Dellwo raten?

Wenn er ein Haus besetzen will, würde ich sagen, mache es. Wenn er sagen würde, ich habe noch fünf Freunde und wir möchten die RAF neu gründen, würde ich sagen, man darf in der Geschichte vieles machen, nur eines nicht: eine Form wiederholen, die gescheitert ist. Ich bin absolut gegen jede Wiederholung der RAF.

Sehen Sie sich auch persönlich gescheitert?

Gescheitert insofern, als ich weiß, dass wir etwas anderes gewollt haben, es aber nicht umzusetzen in der Lage waren. Wir haben unsere Radikalität und unsere Bereitschaft zur Militanz durch unsere eigenen Entgrenzungen desavouiert. Dazu gehören schon die Geiselerschießungen in Stockholm oder später die Flugzeugentführung der Landshut.

Konservative Historiker wie Gerd Langguth behaupten, es gebe einen kausalen Zusammenhang zwischen der Studentenbewegung und den RAF-Anschlägen der 70er-Jahre. Die habe es erst geben können, weil Rudi Dutschke zuvor die Gewalt enttabuisiert habe.

Die herrschende Klasse hat schon immer die Gewaltanwendung zur Durchsetzung materieller Ziele enttabuisiert. Wenn man jetzt zu Rudi Dutschke sagt, er habe die Gewaltanwendung durch Linke enttabuisiert, dann halte ich das für eine bürgerliche Sicht, die immer nur im Schema von Führern und Verführten denken kann. Wenn die Hoffnung gesellschaftlich durchbricht, alles anders machen zu können, dann ist man schnell bei der Frage der Militanz gegen die, die das verhindern wollen. Denn mit der Überzeugung, die Welt besser machen zu können, gewinnt man vor sich das Recht zu den Mitteln, um Strukturen aufzubrechen und die Systemmacht zu überwinden. Man könnte auch sagen: Die Gewalttätigkeit, die später aufgetreten ist, drückt auch aus, wie sehr man davon überzeugt war, dass eine andere Welt historisch möglich ist. Das ist es, was die Fesseln sprengt. Ich habe zu Rudi Dutschke etwas anderes im Kopf als „Enttabuisierung“.

Was denn?

Irgendwo in seinen Tagebuchnotizen las ich Sätze wie „Der Mensch als ganzes steht in der Entwicklung zur Debatte. Und wenn die Entwicklung, so wie sie ist, weitergeht, dann wird er vollständig überrollt werden.“ Das hat auch unserem damaligen Empfinden entsprochen. So gesehen ist es schon plausibel, dass er sich einmal konkret überlegt hat, ein amerikanisches Kriegsschiff in die Luft zu sprengen, um den Nachschub für die US-Streitkräfte in Vietnam zu stören. Ich denke, die Bereitschaft zur Militanz war da. Jedoch, wie schon gesagt: Es fehlte die Massenstimmung dazu.

War denn das Projekt der Stadtguerilla eigentlich ein Geburtsfehler von Anfang an?

Wenn man aus dem Scheitern einer Sache den Schluss zieht, dass sie schon immer falsch war, kann man es so sehen. Für mich ist das nicht so wichtig. Mich trifft mehr, wie die RAF gescheitert ist. Ihr Ende hätte auch ganz anders aussehen können, so, dass ihr Scheitern an den äußeren Bedingungen lag und nicht an den eigenen Entgrenzungen. So wäre sie heute möglicherweise Bestandteil einer Widerstandskultur. Dass sie es nicht ist, ist unser Fehler.

Was bleibt vom Aufbruch der Studentenrevolte?

Von Revolte bleibt das Wissen, dass es immer wieder Zeiten gibt, in denen die alten Normen aufbrechen, und dass die Wirklichkeit verändert werden kann.