Fehlt uns ein Dutschke?

Ja

Historische Vorbilder sind nicht wirksam, weil wir sie kopieren wollen oder können. Sie sind wirksam, weil wir uns an ihnen orientieren, weil sie uns Modelle und Möglichkeiten zeigen. So wurde Rosa Luxemburg zu einer Symbolfigur der Linken, weil sie voll revolutionären Elans war und doch nie ihre Humanität verlor. In den Zeiten des barbarischen Ersten Weltkrieges und in den brutalen Wochen des deutschen Bürgerkrieges 1918/19 bewahrte sie Menschlichkeit, Mitleid und Empathie. Ähnliches gilt für Rudi Dutschke. Er war radikaler Tribun, er war auch wütend und verbittert, und verlor doch nie seine Zärtlichkeit. Genau darin ist er bis heute ein Vorbild: Er verband radikale Politik mit Sanftmut.

Faszinierend an Dutschke ist bis heute auch seine ethische Grundfestigkeit. Die hat mit seinem protestantischen Hintergrund zu tun, aber auch mit der Tatsache, dass er Unfreiheit in Ost und West erlebte, ihr zu entfliehen und sie zu bekämpfen suchte. Wer wäre Dutschke heute? Es gibt viele Beispiele dafür, wie sehr die Zeit Personen verändert. Doch Dutschke war so sehr von einer emanzipatorischen Ethik durchdrungen, dass man sich ihn auch mit viel Fantasie nicht als Minister vorstellen kann, der Hartz IV durchsetzt oder Angriffskriege plant.

„Es bedarf in der Tat der Hoffnung, Phantasie und des Traums, um die bestehenden Verhältnisse transzendieren zu können“, schrieb er in den späten 70ern. Ja, er war ein Radikaler und ein Utopist – und beides ist heute noch ebenso wichtig wie damals, vielleicht sogar noch wichtiger. Es gilt gerade heute radikal, bis an die Wurzeln gehend, die Ungerechtigkeit der herrschenden Verhältnissen zu analysieren. Sind nicht gerade in Zeiten, in denen der lange dominante Diskurs des Neoliberalismus kriselt, utopische, vorwärtsweisende Gegenvorschläge gefragt?

Dutschke verband seine Utopie mit einer subversiven Praxis, die im Hier und Jetzt einen Bruch mit repressiven Verhältnissen markiert. Die bewusste Grenzüberschreitung, der zivile Ungehorsam, den Dutschke durchdacht und praktisch verwirklich hat, ist bis heute ein Leitfaden für jede soziale Bewegung, die die Verhältnisse zum Tanzen bringen will. Was wären die Proteste gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 ohne die massenhaften, zuvor angekündigten Blockadeaktionen gewesen? Kritisches Engagement braucht subversiven Ungehorsam, so wie ihn Dutschke vorgedacht – und gelebt hat.

Dreh- und Angelpunkt seines Denkens war die Selbstemanzipation der Menschen. Dutschke steht für eine Linke, die nicht staatsfixiert ist, die auf die Fähigkeit der Menschen setzt, sich selbst und so auch die Gesellschaft zu verändern. In seinem Text „Keiner Partei dürfen wir vertrauen“ benutzt er die Formulierung von einer „sozialen Demokratie von unten und für unten“, die sich als Leitformel für emanzipatorische Politik eignet. Diese Spur findet sich in der globalisierungskritischen Bewegung und im Geiste des Weltsozialforums von Porto Allegre wieder.

Vieles, was Dutschke und seine GenossInnen umstürzen wollten, wurde umgestürzt, oft ohne dass sie es damals schon merkten. Vieles, was sie für möglich hielten, war jenseits des Realistischen. Das Pathos der damaligen Reden und auch Dutschkes ungebremster Voluntarismus sind uns heute eher fremd. Doch man darf nicht übersehen, dass Dutschke vor allem langfristig dachte. Gerade weil es um grundlegenden Wandel ging, verband er Radikalität mit Geduld. Manches bei Dutschke ist überholt. Doch die Idee, eine auf unmittelbarer Subversion basierende kritische Praxis mit einer langfristigen Tranformationsperspektive für die Gesellschaft zu verknüpfen, ist für die neupolitisierte Globalisierungsgeneration goldrichtig.

Dutschke unterschied sich in einem wesentlichen Punkt von dem linksradikalen Mainstream der 70er- und 80er-Jahre: Er wollte nie die Abschottung des eigenen Milieus, sondern dessen Öffnung. Er suchte gesellschaftliche Bündnisse und hielte stets an der Idee fest, die sogenannten normalen Bürger zu erreichen. Dieses Projekt musste in der von Antikommunismus und Sozialpartnerschaft tief geprägten Bundesrepublik der 60er- und 70er-Jahre scheitern. Doch heute, nach zwanzig Jahren neoliberaler Politik und in Zeiten von Hartz IV und der Debatte über Armut, steht genau dieses Projekt auf der Tagesordnung – nämlich kein Experiment unversucht zu lassen, um die „einfachen Leute“ für emanzipatorische Politik zu begeistern.

PEDRAM SHAHYAR

Nein

Rudi Dutschke war ein Humanist, offen für Neues und weitgehend immun gegen doktrinäre Verhärtungen. Deshalb perlen alle Versuche, ihn als Vordenker der RAF zu outen, an ihm ab. Solche Versuche sind entweder nachträgliche Rechthabereien damaliger Gegner (wie etwa von dem CDU-Mann Gerd Langguth) oder gehen auf das Konto von Renegaten, die meinen, damit ihre Läuterungsprozesse beglaubigen zu müssen. Die Verteidigung der zeitgeschichtlichen Figur Dutschke gegen durchsichtige Angriffe ist das eine – etwas anderes ist die Frage, was sein Denken heute bedeutet. Können wir 2008 mit ihm wirklich noch etwas anfangen – oder taugt er nur noch für die Ahnengalerie? Wäre eine Figur wie Dutschke heute noch denkbar?

Man kann diese Fragen anhand von drei Begriffen fokussieren: Charisma, Utopie und Staat. Sie zeigen, wie fern uns Dutschke als politische Figur geworden ist. Nicht weil seine Irrtümer so monströs waren, sondern weil sich die Verhältnisse gewandelt haben.

Dutschke war Sprachrohr, Aushängeschild, konzeptueller Denker, Herz und Kopf der Studentenbewegung in einem. Er war ein charismatischer Redner. Niemand hat die Studentenbewegung so verkörpert wie er. Interessanterweise gab es in keiner sozialen Protestbewegung nach 1968 eine vergleichbare Figur. Weder die Ökobewegung noch Globalisierungskritiker, weder die Frauen- noch die Hausbesetzerbewegung haben eine ähnliche Führungsgestalt hervorgebracht – vielleicht mit der Ausnahme von Petra Kelly, die in den frühen 80er-Jahren in der pazifistischen Bewegung kurzzeitig eine ähnliche Rolle spielte. Im Allgemeinen aber gilt, dass die sozialen Bewegungen in den letzten 40 Jahren keine Helden mehr brauchten und wohl auch nicht mehr vertragen hätten. Sie waren einerseits zu selbstbewusst, um eine solche Monopolisierung von Bedeutung zuzulassen, andererseits auch zu vielfältig und widersprüchlich, um von einer Leitfigur repräsentiert zu werden.

Dutschkes Charisma verdankte sich seiner Rhetorik. Darin mischte sich das selbstverständliche Bewusstsein, Geschichte machen zu können, mit dem Glauben, dass die Utopie einer befreiten Menschheit eine reale Möglichkeit ist. Die Revolution ist möglich, wenn wir sie wollen – dieser Gestus durchzieht sein Denken.

Vielleicht war 1968 das letzte Mal, dass viele in aller Unschuld an die große Erzählung glaubten, dass es „die Geschichte“ gibt und dass sie machbar ist. 2008, nach dem Ende des Marxismus und seiner Derivate, sehen wir, dass die große Erzählung selbst Geschichte ist und es viele, parzellierte, kleinteilige, widersprüchliche Geschichten gibt. Utopie ist heute jedenfalls ein Wort für Sonntagsreden, nichts für den Hausgebrauch. Es geht auch nicht mehr um die wolkige Revolutionierung der Gesellschaft, sondern darum, deren sozialen Zusammenhalt zu bewahren. Attac zielt nicht auf die Erlösung der Menschheit, sondern auf die Regulierung der internationalen Finanzmärkte. Auch der Slogan der Globalisierungskritiker „Eine andere Welt ist möglich“ klingt nicht zufällig ja eher reformistisch. Die historische Zentralperspektive, an der auch der postmarxistische Dutschke festhielt, der sich Ende der 70er-Jahre den Grünen annäherte, ist heute jedenfalls zerbrochen.

Komplett auf den Müllhaufen der Geschichte gehört die Staatsskepsis der 68er, die auch Dutschke teilte. Sie war damals Teil des Kampfes der Generationen, des Aufbegehrens mancher Kinder der NS-Generation gegen ihre Eltern, die sich, ebenso wie die Kiesinger & Globkes, nach 1945 so unheimlich geräuschlos in Demokraten verwandelt hatten. Doch das ist vorbei. Auch die Bastionen des deutschen Obrigkeitsstaates sind, dank 1968, geschleift.

Die andere Seite des Kampfes der Linken gegen den Staat war das etwas blauäugige Vertrauen in Selbstorganisationskräfte der Massen. Nein, nichts gegen soziale Bewegungen, sie sind ein Ferment der Demokratie. Aber eben nur das. Wer dauerhaft sozialen Ausgleich und demokratische Verlässlichkeit will, kommt um Institutionen nicht herum.

Der Nationalstaat ist nicht mehr der Feind, er fällt eher unter die Kategorie bedrohte Spezies. Seine Kompetenzen wurde durch transnationale Organisationen ebenso beschnitten wie durch die seit 1990 enorm gewachsene Macht multinationaler Konzerne. Der antiautoritäre, libertäre Antietatismus der 68er gehört ins Museum. Die Staatsfeinde des 21. Jahrhunderts sind die Neoliberalen. Die Linke muss den Staat und auch supranationale Institutionen nutzen, um der blinden Macht des Marktes Gerechtigkeitspolitik abzutrotzen. Das klingt nach Arbeit, ist es auch.

Dutschke verkörperte, was uns heute manchmal fehlt: die sinnstiftende, große Erzählung. Aber sie fehlt uns aus guten Gründen. Und auch nur sonntags.

STEFAN REINECKE