Der heiße Kern des Politischen

Wie tickt ein Minister? Was treibt ihn an? Schriftsteller Michael Kumpfmüller und Außenminister a. D. Joschka Fischer diskutierten in der Akademie der Künste über politische Romane und die Geheimnisse des Spitzenpolitikerdaseins

„Ich habe auch Sie beschrieben!“, sagte Kumpfmüller. Fischer wies das zurück

Von ALEXANDER CAMMANN

Am Abend danach saß der Minister mit seiner Ehefrau in der Trattoria Papparazzi an der Ecke Husemannstraße/Danziger Straße. Tags zuvor hatte ein bis dahin unvorstellbarer Terroranschlag die Welt erschüttert – und der Minister aß beim Italiener in Prenzlauer Berg. Diese Szene stammt nicht aus dem neuen, zurzeit vieldiskutierten Roman „Nachricht an alle“ von Michael Kumpfmüller, in dem Innenminister Selden das Land und sich selbst durch schweres Gewässer manövrieren muss. Keine literarische Fiktion, sondern lebensweltliche Realität: So verbrachten Joschka Fischer und seine damalige Ehefrau Nicola Leske den Abend des 12. September 2001.

Der Exaußenminister erzählte diese Geschichte jedoch nicht, als er am Dienstagabend in der Akademie der Künste am Hanseatenweg mit Michael Kumpfmüller über dessen Roman diskutierte. Dabei hätte sie vielleicht besser als jede Schriftstellerei die seltsame Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen illustrieren können, die das Dasein des Spitzenpolitikers prägt: Rolle und Individuum, Amt und Alltag, Funktion und Privates, alles miteinander vermengt. Zwar muss auch die Currywurstverkäuferin am Kottbusser Tor diese verschiedenen Rollen leben; so will es die moderne Welt. Doch da sie nicht über Zahnersatzzuzahlung und Krieg entscheidet, entzünden sich an ihr selten die Fantasien des Publikums. Denn wenn sie eine Affäre beginnt, beeinflusst das allenfalls die Qualität ihrer Currywürste und kaum das Schicksal der Nation.

Meditationen über das Wesen der Macht dürften sich also die Zuhörer versprochen haben, die am Dienstag den Saal nur zur Hälfte füllten. Und sie erwarteten Aufklärung darüber, was denn an dem von den Feuilletons hinaustrompeteten Literaturtrend dran sein könnte: der angeblichen Rückkehr (?) des politischen Romans. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auch im Publikum: Vanity-Fair-Blogger Rainald Goetz saß wuselig zwei Plätze neben der asketischen Thomas-Mann-Exegetin Inge Jens, deren Sohn am gleichen Tag via FAZ die Altersdemenz ihres Mannes und Exakademiepräsidenten Walter Jens enthüllt hatte. Kumpfmüllers Romanheld Selden endet in einem Hochsicherheitsaltersheim für Spitzenpolitiker, wie Joschka Fischer auf dem Podium ironisch beunruhigt feststellte.

Der Schriftsteller und der Exminister: Es war ein müdes Paar, das es etwas angestrengt miteinander versuchte. Kumpfmüller verwies als Antrieb zu seinem Roman tatsächlich auf seine Mutter als bayerische Lokalpolitikerin und deren Frage an ihn: „Wie hältst du es mit der Politik?“ Zudem habe sich das Lebensgefühl nach 9/11 total verändert und er sich immer mehr über die Politikerverachtung hierzulande geärgert. So weit, so staatsbürgerlich simpel. Sein softes „Ich habe auch ein Stück weit Sie beschrieben!“ konnte Fischer da leicht zurückweisen. Beleibt, krawattenlos und in kleinkariertem, blauweißen Hemd saß er da, mit wie üblich süffisant plinkernden Augen und zuckenden Mundwinkeln. „Ich war letzte Woche wieder in Nahost“ – zum Glück hielten sich solche „Wenn ich mir die Welt um uns herum anschaue“-Sätze des alternden Fischer erstaunlicherweise in Grenzen. Stattdessen stellte er seine „typische 68er-Frage“ (Fischer) an den Autor über dessen Ministerfigur: „Was treibt Selden eigentlich an?“ In der Realität sei es ein ehrgeiziges Brennen, ein Sichverzehren und der Wunsch, Geschichte mitzugestalten. Fischer bekannte seine Schwierigkeiten mit dem Buch, weil er diesen heißen Kern des Politischen bei der Lektüre eines angeblich politischen Romans nicht wiederfand.

Man fremdelte offensichtlich, zumal alle ästhetischen Fragen außen vor blieben. Waren es Kommunikationsschwierigkeiten unterschiedlicher Jahrgänge? Kiepenheuer & Witsch-Verleger Helge Malchow verwies auf das defensive Politikverständnis der heutigen postheroischen Politikergeneration, die sich in der Gestalt Seldens spiegeln könnte.

Die illuminierte Wand hinter den Diskutanten wechselte im Laufe des Abends ihre Farbe: von einem freundlichen Morgenrot hin zu einem kühl-skeptischen Blau-Grün. „Aufmerksamkeit fürs Detail an der falschen Stelle, und die Sache als Ganzes nicht verstanden“, so lautet das harsche, wohl zutreffende Verdikt von Rainald Goetz über Kumpfmüller. Das Geheimnis der Macht und ihrer diversen Rollen, wenn es denn überhaupt eins gibt, hatten Autor und Exminister ebenso wenig enträtselt wie die Frage nach guter politischer Belletristik. Vielleicht sollte ein guter politischer Roman von heute zunächst einmal die Geschichte der Currywurstverkäuferin erzählen. Sie sucht gerade einen Käufer für ihre Bude.