Ausgang aus der Unmündigkeit

Mit ihrem Werk „Das andere Geschlecht“ wurde Simone de Beauvoir weltberühmt. Heute jährt sich der Geburtstag der französischen Philosophin und Schriftstellerin zum 100. Mal. Eine Hommage an ihr Werk und ihre Persönlichkeit

VON BARBARA VINKEN

Simone de Beauvoir hat viele, sehr lesenswerte Romane geschrieben. Ihr überdauernder Ruhm aber verdankt sich ihrer Summa, dem Werk „Das andere Geschlecht“. Es erschien 1949 und machte die 41-Jährige über Nacht berühmt. Seine Kühnheit, seine Unerschrockenheit, der Witz, mit dem sie sich über das Männlichkeitsgehabe ihrer Zeitgenossen amüsiert, ist auch einer Nachkriegszeit geschuldet, über die sich die Restauration der Fünfzigerjahre noch nicht wie Mehltau gelegt hatte.

Diese Souveränität verdankt Beauvoir aber nicht nur dem Zeitgeist; sie wusste, dass sie dazugehörte. Schließlich war sie nicht nur eine Tochter aus gutem Hause, wie auch ihre Autobiografie betitelt ist, sondern Spitze der französischen Leistungselite: Beim mythischen Philosophie-Concours der École Normale belegte sie (nach Sartre) den zweiten Platz.

Fesseln der Liebe

Ich las „Das andere Geschlecht“ 1976, mit sechzehn Jahren, und klappte die 711 Seiten der deutschen Übersetzung mit der felsenfesten Entscheidung zu, finanziell auf eigenen Füßen zu stehen und, komme, was wolle, einen Beruf zu finden, der mich erfüllt und unabhängig macht. Die Fesseln der Liebe, so schien es mir damals, wären dann leichter zu tragen, die Katastrophen des Eros nicht ganz zerstörend, den Männern wäre man nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

„Das andere Geschlecht“, im reinsten Geist einer fortschrittsorientierten Aufklärung geschrieben, versucht, das weibliche Geschlecht aus seiner, mit Kant zu reden, selbst (jedenfalls mit-) verschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Es kann nicht schaden, den kulturalistischen Beauvoir’schen Lehrsatz, man werde nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht, heute, da die Erhaltung und Verbesserung der Rasse noch als Grund für einen Seitensprung mit einem besonders tetesteronstrotzenden Mann während der fruchtbaren Tage herhalten muss, in Erinnerung zu rufen.

„Das andere Geschlecht“ ist das, was die Postmoderne später einen grand récit – eine große Erzählung – nennen würde. Es fängt, wie alle grands récits, mit Adam und Eva an und führt in eine strahlende Utopie. Im Übergang vom Mutter- zum Vaterrecht wird der Mann Subjekt, das sich nicht in der Wiederholung der Erhaltung des Lebens erschöpft, sondern das Leben begründet, indem er es auf eine andere Zukunft hin überschreitet. Dieser Schritt, der dem Leben die Berechtigung zum Leben vorzieht, wird offensichtlich in Jagd und Krieg: In der Daransetzung des Lebens wird der Geist gegen das Leben bejaht.

Falle Vaterrecht

„Der schlimmste Fluch, der auf den Frauen lastet, ist, dass sie von den kriegerischen Unternehmungen ausgeschlossen sind. Nicht indem er sein Leben hergibt, sondern indem er es wagt, erhebt der Mensch sich über das Tier. Deshalb genießt innerhalb der Menschheit das höchste Ansehen nicht das Geschlecht, das gebiert, sondern das Geschlecht, das tötet.“ Um die Emanzipation der Frau, das Heraustreten aus der Immanenz, wie das im damaligen existenzialistischen Jargon hieß, müsse es folglich gehen; die Frau soll endlich Subjekt werden, wie der Mann es schon geworden ist. Das wird man, so glaubte Beauvoir, durch Arbeit. Aber nicht durch irgendeine Arbeit, sondern durch Arbeit, die über die bloße Reproduktion des Lebens hinausgeht. Die schlimmste Fessel auf diesem Weg sei für die Frau die Ehe – das Ausgehaltenwerden durch einen Mann, der Verzicht auf Arbeit, auf Selbstständigkeit und somit auf Selbstbestimmung. Die modernen Frauen sah Beauvoir zersplittert zwischen der Konzentration auf den Beruf und der Möglichkeit zur Heirat, die einen aller weiteren Anstrengungen enthebt und für den gesellschaftlichen Aufstieg sorgen könnte.

Die andere Fessel, die die Frau daran hindere, so wie der Mann Subjekt zu werden, sei die Mutterschaft, durch „die die Frau an ihren Körper gebunden bleibt wie ein Tier“, das Subjekt der Art untergeordnet wird. Besonders verheerend sei das Kinderkriegen in vaterrechtlichen, und das heißt in allen modernen Gesellschaften, in denen die Mutter zur Amme und Erzieherin, die Kinder aber zum Eigentum des Vaters werden. Historisch sieht Beauvoir das bürgerliche 19. Jahrhundert und den Code Napoléon als reinsten Ausdruck einer solchen vaterrechtlichen Gesellschaft, die bis in ihre Gegenwart bestimmend geblieben sei.

Die erotische Liebe – und das hat Beauvoir nicht nur gefordert, sondern gelebt – solle frei werden, sie soll nicht an wirtschaftliche Formen gekoppelt sein. Sie soll auch nicht Sinn und Zweck des Lebens, sondern wie beim Mann Teil eines Lebens sein, das im Wesentlichen der Arbeit gewidmet ist. Mehr noch als der Mann verbaue sich die Frau von heute, meint Beauvoir, den Weg zu einer „bejahten Existenz“ selbst: aus Bequemlichkeit, aus Angst vor der Herausforderung, weil sie sich in der Rolle des Anderen gefalle, weil sie Angst habe, dann nicht mehr Frau zu sein.

Und wie soll die Zukunft aussehen, wenn die Frau zur selbstbestimmten Existenz gefunden hat? Der Unterschied zwischen Männern und Frauen würde nicht aufgehoben werden, die Liebe nicht aussterben – beruhigt uns Beauvoir – aber die „Versklavung“ der einen Hälfte des menschlichen Geschlechtes wird aufhören, damit beide „rückhaltlos geschwisterlich“ im Reich der Freiheit zueinander finden könnten, in dem Liebe den „Charakter einer freien Überschreitung und nicht mehr einer Selbstaufgabe bekäme“.

Phantasma Freiheit

„Das andere Geschlecht“ hat Momente, die heute noch genauso aktuell wie früher sind, und andere, die überholt wirken. Wir sind im Ganzen skeptischer geworden und haben die Gespaltenheit des Subjektes und seine grundsätzliche Unverfügbarkeit akzeptiert; die Schwangerschaft ist etwa von der französischen Philosophin Kristeva nicht als das Tierhafte schlechthin, sondern als Symbol für diesen grundsätzlich entfremdeten, an einen anderen entäußerten Zustand des Subjektes gelesen worden. Der Optimismus des Existenzialismus, der Glaube an die Selbstbestimmtheit des Subjektes und irgendwelche Reiche der Freiheit erscheinen heute als Phantasma. Authentizität suchen wir nicht mehr im Verhältnis der Geschlechter, sondern erfreuen uns höchstens geschwisterlich an der Komödie, die das eine dem anderen Geschlecht vorspielt. Der Glaube an den Mann als Menschen, Bewunderung für das Männlich/Menschliche ist uns fremd geworden; den Homo Faber finden wir in seiner Selbstermächtigung manchmal rührend, manchmal aufgeblasen und ein bisschen lächerlich. Das Trauma, das Menstruation und Geschlechtlichkeit für die Frauen früherer Generationen bedeutet haben müssen, können wir, so glaube ich, nicht mehr nachvollziehen. Beauvoirs Schilderungen von Hochzeitsnächten wirken wie aus einer anderen Zeit. Kurz, die sexuelle Emanzipation ist entschieden schneller fortgeschritten als die ökonomische.

Am besten ist Beauvoir da, wo sie den Existenzialismus aus den Augen verliert. Und das Erstaunlichste und mit dem existenzialistischen Tenor so gar nicht zu Vereinbarende ist die Wahl der einzigen Frau, die es in Beauvoirs Augen geschafft hat, die Norm tranzendierender Subjektivität wie ein Mann zu erfüllen: Theresa von Avila. „Eigentlich hat nur die heilige Theresa auf eigene Kosten in einer völligen Verlassenheit die menschliche Seinsbedingung durchlebt.“ Wenn aber das sich überschreitende Subjekt aus der mystischen Gottesliebe modelliert wird, kann man schwerlich von aufgeklärter Selbstbehauptung, muss man hingegen eher von völliger Selbstaufgabe reden. Die Liebe als Entäußerung an einen anderen ist dann auch nicht Teilbereich, sondern das Leben selbst. Mit dem Beispiel Theresa von Avila hat Beauvoir schon früh den existenzialistischen Begriff des Subjekts dekonstruiert.

Beauvoir bleibt, oft gegen den Strich ihrer Philosophie gelesen, eine große Analytikerin der Leidenschaft. Und eine unbestechliche Beobachterin von Frauen, den Ängsten, durch Erfolg weniger Frau zu sein, während der Erfolg des Mannes seine Männlichkeit nur bestätige; den Heucheleien, wenn Frauen in der Ehe ausgehalten werden, und den daraus resultierenden oft kindischen Kompensations- und Legitimationsversuchen; der Zerrissenheit zwischen Beruf und Weiblichkeit. Gerade weil junge Frauen sich heute oftmals gleichberechtigt fühlen – man fragt sich, woher viele diesen Optimismus nehmen –, muss man über „Das andere Geschlecht“ sagen, was Diderot über Richardsons Bestseller „Clarissa“ gesagt hat: Lesen Sie Beauvoir, lesen Sie sie ohne Unterlass.

Barbara Vinken, geb. 1960, ist Professorin für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft an der Universität München