„Das verrückte Russengrün“

FOTOGRAFIE Joachim Liebe hat den Abzug der russischen Soldaten aus Brandenburg in einem Langzeitprojekt festgehalten. Die Ausstellung „Vergessen“ im Kunstraum Potsdam zeigt seine Bilder

■ geboren 1955 in Potsdam, studierte Kulturwissenschaft und arbeitet seit 1990 als selbstständiger Fotograf und Fotojournalist. Daneben zahlreiche Ausstellungen, Stipendien und Auszeichnungen. 2009 erschien „Wende, Wandel, Wiedersehen“, eine um aktuelle Porträts ergänzte Neuauflage seines Fotoprojekts zur Wende in Potsdam 1989/90.

■ Die Ausstellung „Vergessen“ im Kunstraum Potsdam, Schiffbauergasse 4 D, präsentiert drei Zyklen seines Langzeitprojekts zum Abzug russischer Truppen aus Brandenburg. Öffnungszeiten Mi. bis So. 12–18 Uhr. Eintritt frei.

■ Die Schau wird begleitet von einer RBB-Dokumentation und einem Spiel- und Dokumentarfilmprogramm im Filmmuseum Potsdam. Zur Finissage am 17. Mai wird der Bildband „Vergessene Sieger. Jahre danach“ vorgestellt.

INTERVIEW CLAUDIA LENSSEN

taz: Herr Liebe, wie entstand die Idee einer Fotoserie zum Abzug der russischen Truppen?

Joachim Liebe: Ab 1991 – nach der Auflösung der Sowjetunion und der politischen Entscheidung für den Abzug – habe ich begonnen, Porträts von Soldaten und ihren Familien während der verschiedenen Abzugsetappen zu fotografieren. Ich habe mir gesagt, dass etwas daraus entstehen muss, weil es sich um einen einmaligen Vorgang handelte. Aber erst um 1994, zum Abschluss des Truppenabzugs, habe ich mich intensiv darum gekümmert. Seither hat mich das Thema nicht losgelassen.

Was fasziniert Sie denn an dem Motiv?

Da spielen auch Erinnerungen aus Kinderzeiten eine Rolle. In Luckenwalde, wo wir wohnten, gehörten die Soldaten dazu. Sie sind oft durchgefahren und haben am Stadtpark gehalten, wenn ein Fest war. Manchmal haben sie auch gesungen. Wir sind dann hin und haben Abzeichen gekriegt. Ich kann mich auch an Filme erinnern, die man heute nicht mehr sieht. Die Affinität ist eigentlich nie abgerissen, ich will das gar nicht leugnen. Was dieses Volk gelitten und geleistet hat, und am Ende sind sie dann die Bösen! Die Amerikaner spielen weit weg von zu Hause Weltpolizist, und keiner regt sich darüber auf. Aber das wollen wir jetzt nicht diskutieren. Damals habe ich jedenfalls gedacht: Schon gut, dass sie da sind.

Verstehen Sie Ihre Bilder als politischen Kommentar?

Gorbatschow hat damals das vierseitige Abkommen zum Abzug der Alliierten mitunterschrieben, aber heute sind die Amerikaner immer noch in Westdeutschland. Was soll ich dazu sagen? Beurteilen Sie meine fotografische Leistung. „Vergessen“ ist ja eine Kunstausstellung. Ich beobachte, weil das meine Stärke ist und ich immer dachte, der Abzug kann doch nicht alles gewesen sein. Ursprünglich wollte ich sogar hinterherreisen und fotografieren, wo sie ankommen. Leider fand ich niemanden, der das Projekt unterstützt hätte. Es ging nicht, am Güterbahnhof in Satzkorn mit in den Zug zu steigen und zehn Tage im Viehwaggon bis zu ihrem neuen Standort mitzufahren. Ich hätte dafür auch Kontaktpersonen gebraucht.

Wie haben Sie die Stimmung wahrgenommen?

Die Soldaten hatten jede Menge Stress, weil sie alles unter Zeitdruck beräumen mussten. Natürlich blieb dann doch eine Menge Schrott liegen. Selbst die Nato-Leute haben später gesagt, dass es eine große Leistung war, in dreieinhalb Jahren die Logistik für diesen Riesenapparat in Gang zu setzen. Die Armee hat Druck gemacht auf die Kleinen. Das war ein ziemlich hartes Regime.

Auf Ihren Bildern sieht man teils Müdigkeit, teils auch Stolz und Freude, ernst genommen zu werden.

Ich musste nichts inszenieren. Wenn ich jemand zeige, der lächelnd neben seinem Lieblingsfamilienbild auf dem Bett sitzt, dann war das sein Nachttisch, sein Bild, warum sollte er da nicht sitzen? Einmal habe ich zwei Soldaten die russisch-orthodoxe Kirche in Potsdam gezeigt, die sie gar nicht kannten. Ich habe mir Zeit genommen und beim Fotografieren dafür gesorgt, dass der Blitz nicht blendet, ansonsten war alles Intuition im richtigen Augenblick. Die Intensität kam von den Menschen und der Situation. Wissen Sie, ich bin kein Militär, überhaupt nicht. Das ist eine emotionale Schiene zu den Russen.

Einer Ihrer Bilderzyklen geht den Spuren der in Deutschland verstorbenen Russen nach.

Auf dem Friedhof an der Michendorfer Chaussee sind Kriegsopfer begraben. Nach den Standards, die nach der Wiedervereinigung eingeführt wurden, zählen bis 1953 verstorbene Angehörige der Roten Armee als Kriegsopfer. Dann liegen da auch Angehörige und Kinder und Soldaten, die während der DDR-Zeit umgekommen sind. Es hat ja unglaubliche Unfälle und Manöveropfer gegeben. Schwierig ist, dass die Gräber sich senken und zusammenfallen, aber ein Ehrenhain hätte nicht mehr den verwunschenen melancholischen Charakter, den ich in meinen Farbbildern festgehalten habe. Es sind Grabbilder.

Man sieht Porträts von Menschen in Uniform und Sonntagsstaat, als würden sie ewig leben.

Ja, aber manchmal wächst viel Moos darüber, so dass ich kratzen musste, um die Namen lesen zu können. Es sind Bilder der Vergänglichkeit, jedes mit Namen, Geburts- und Sterbedatum.

In den letzten Jahren haben Sie verlassene Orte fotografiert, in Farbe, und sehr präzise quadriert.

Ich habe während eines Aufenthalts im Künstlerhaus Wiepersdorf vier Monate in Jüterbog und Umgebung ehemalige Garnisonsstandorte fotografiert, alles überwucherte Ruinen von unglaublicher Schönheit. Man findet da verwitterte und abgeblätterte Wandbilder, naive Kunst, und Farben wie das verrückte Russengrün. Die Natur wächst darüber. 70 Jahre nach Kriegsende und 20 Jahre nach dem Abzug wird immer mehr abgerissen. Wohnungen werden auf die Gelände gebaut; eine Russenkaserne in Potsdam ist jetzt Sitz einer Bank. Ich würde ein paar Dinge erhalten wollen. Der kulturhistorische Wert wird leider ignoriert.

Haben Sie Verständnis für Menschen, die die Rote Armee und das Verhalten ihrer Soldaten kritisch sehen?

Mich hat das Thema nie in Ruhe gelassen. Was die Nazis angerichtet haben, darf man nicht vergessen. Die Russen haben einen hohen Blutzoll bezahlt.