Die Novelle von der Überflüssigkeit der Kunst

FEDERLEICHTIGKEIT Rainer Wieczorek erzählt von einem Konzeptkünstler, der Wolken sammelt. „Zweite Stimme“ heißt das Buch

VON JOCHEN SCHIMMANG

In Hans Magnus Enzensbergers 1975 erschienenem Gedichtband „Mausoleum“ gilt eine Ballade Frédéric Chopin. Sie endet so: „Die Unerbittlichkeit, mit der er, zeit seines Lebens, / für das Überflüssigste eintrat, ist schwer zu erklären.“

Fast liest sich Rainer Wieczoreks Künstlernovelle „Zweite Stimme“ wie eine erweiterte Paraphrase auf diese Zeilen. Das Überflüssigste, wir Angehörigen dieses lebensweltlichen Milieus wissen das mehr als alle anderen, ist natürlich die Kunst. Jeder von uns weiß, dass Kunst nicht sein muss, nur eben, dass ihre Macher ohne sie nicht leben könnten (oder das zumindest glauben) und deshalb unerbittlich weitermachen.

Unerbittlich allerdings ist Baumeister nicht. Er ist ein frühpensionierter Schriftsetzer (man wird bald den nachwachsenden Generationen erklären müssen, was es mit diesem Beruf auf sich hatte), der nach dem Tod seiner Frau allein auf seinem großen Grundstück im Odenwald lebt und nur ab und an Besuch von seiner Tochter Paula bekommt, die in Kiel Soziologie studiert und über „die Zukunft der Arbeit“ schreibt: passend für die Tochter eines Vaters, dessen Beruf ausgestorben ist.

Geschlecht der Wolken

Eines Tages wird Baumeister auf dem Rückweg vom Friedhof von einem jüngeren Mann mit Spazierstock überholt. Der Stock ist keineswegs eine Gehhilfe, sondern das Attribut des ihn überholenden Künstlers mit dem bezeichnenden Namen Skala, der sich als „Spaziergangswissenschaftler“ bezeichnet. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich Skala aber als Künstler der Art, die man gern Konzeptkünstler nennt. Er betreibt ein „Institute for the Study of Natural Phenomena“ und sammelt – Wolken. Genauer: Er zieht 2.000 Milliliter einer Wolke auf Flaschen, versiegelt diese und versieht sie mit „Datum, Uhrzeit, Name der Wolke, Ort der Entnahme, Besitzer der Wolke, Uhrzeit der Entnahme, Höhe über Meeresspiegel, Luftdruck, Temperatur, Farbe, Klang, taktile Eigenschaften, relative Luftfeuchtigkeit, Geschmack, Form, Geruch, Geschlecht“.

Diese drei Figuren – Baumeister, seine Tochter Paula, Skala – konstituieren das Feld, in dem Wieczoreks Novelle sich entfaltet. Denn die ist in Skalas Wolkenkunst ebenso angesiedelt wie in der handwerklichen Solidität von Baumeisters Exberuf und im nüchtern-analytischen Blick der angehenden Soziologin mit Aussicht auf eine akademische Karriere. Dabei ist es lange Zeit der Künstler Skala als Repräsentant des Überflüssigen, der den Ton angibt. Seine Kunst entzieht sich jeglicher Verwertbarkeit, was darin gipfelt, dass die Ergebnisse eines „Klangfestivals“ auf eine Langspielplatte pressen lässt, „die schließlich in Plastikfolie eingeschweißt werden würde. Der Schall des Tals sei damit festgehalten, könne aber nicht angehört werden, ohne das Kunstwerk zu beschädigen, bleibe also im Sagenhaften.“

Baumeister wird im Wortsinn zu Skalas Archivar, baut ein Richard-Skala-Archiv auf und interpretiert in der Konfrontation mit Skalas Kunst seine eigene Geschichte neu. Schließlich sind seine beruflichen Kenntnisse längst überflüssig geworden und nicht länger verwertbar, was ihn für die Auseinandersetzung mit einer Kunst, die sich von vornherein der Verwertung verweigert, prädestiniert. Am Ende hat Baumeister ein völlig neues Archivkonzept entworfen, das in seiner Radikalität den Künstler Skala noch überholt. (Wieczorek baut hier eine schöne, beiläufige Museumskritik ein.) Diese irrwitzige Volte soll hier nicht verraten werden, nur so viel: Erzählt wird am Ende eine Geschichte des konsequenten Verschwindens.

Verstiegen? Kein bisschen

Klingt das alles verstiegen? Ist es kein bisschen. Zum einen beherrscht der Autor die hohe Kunst der (romantischen) Ironie, und es gibt Stellen in der Novelle, an denen man lauthals lachen muss. Und sosehr sie sich im Wortsinn mit Wolken beschäftigt, so verankert ist sie doch auch in der Erde. Sogar eine marxistische Lesart wäre hier und da erlaubt, etwa da, wo Baumeister im Aufschreiben seiner Erinnerungen an die Arbeit mit der Linotype über das Verhältnis von Arbeiter und Maschine reflektiert. Zum anderen teilt sich das Schwebende, auch leicht Irrwitzige der Handlung in Wieczoreks Sprache mit, die den Leser jederzeit trägt, und in der eleganten Beiläufigkeit, mit der er erzählt. Man könnte sich dieses Kammerspiel gut auch im Kino vorstellen, wobei der Regisseur wohl Rudolf Thome heißen müsste.

Rezensenten sollen nicht über ihre Befindlichkeiten sprechen. Ich verstoße hier gegen das Gesetz und sage, dass mich diese Novelle beim ersten und zweiten Lesen federleicht gemacht hat und sie für mich die schönste Entdeckung dieses Bücherherbstes ist. Man darf sich auf die angekündigten beiden Folgestücke freuen, die das Ganze zu einer Trilogie abrunden werden.

Rainer Wieczorek: „Zweite Stimme“. Dittrich Verlag, Berlin 2009, 138 S., 16,80 Euro