Europa drückt gleichzeitig auf Gas und Bremse

Welchen Effekt haben die Anschläge auf den EU-Beitritt der Türkei? Eine makabre Frage, dennoch wird sie von Politikern eifrig beantwortet. Nur wenige bewahren kühlen Kopf

„Dann hätten wir Israel und Marokko doch längst aufnehmen müssen“, warnt der Grüne Voggenhuber

BRÜSSEL taz ■ Angesichts der Schreckensbilder aus Istanbul wirkt die Frage nach dem möglichen Effekt der Anschläge auf den Beitrittsprozess zur Europäischen Union makaber. Sie wurde dennoch gestern in allen Hauptstädten diskutiert. Diejenigen Politiker, die in der EU vor allem ein politisch-militärisches Bündnis der westlichen Zivilisation gegen terroristische Bedrohungen sehen, wollen dieses Bündnis weiter festigen und die Türkei rasch aufnehmen. Die Beitrittsgegner, allen voran die deutschen Christdemokraten, sehen sich ebenfalls in ihrer Haltung bestätigt.

Deren europapolitischer Sprecher Peter Hintze will zwar die polizeiliche und nachrichtendienstliche Zusammenarbeit zwischen EU und Türkei verstärken. Er warnte aber davor, die Anschläge als Argument für die Beschleunigung eines EU-Beitritts der Türkei „zu missbrauchen. Krisenzeiten sind schlechte Zeiten für Spontanentscheidungen“, sagte der CDUler. Die Türkei müsse weiterhin zunächst die EU-Beitrittskriterien erfüllen. Danach müsse entschieden werden, „ob die EU eine solche Erweiterung verkraftet oder nicht“.

Auch der Vizepräsident des Europaparlaments, der CSU-Politiker Ingo Friedrich, sprach sich gegen einen schnellen Beitritt der Türkei aus. Fundamentalistische Islamisten könnten befürchten, dass ein „Kernland der islamischen Welt herausgebrochen und zwangsweise in den Westen gezogen“ werde. Das könne den Terror weiter verstärken. Eine solche Sicht schade türkischen wie europäischen Interessen, betonte dagegen der Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen. „Wer eine solche Debatte zum jetzigen Zeitpunkt lostritt, macht sich ungewollt zum Erfüllungsgehilfen der Ziele der Terroristen, die Christentum und Islam spalten wollen und im Begriff sind, an der Türkei ein Exempel zu statuieren.“ Insbesondere sei das Argument, mit dem Beitritt könnte der Terror in die EU importiert werden, überhaupt nicht nachvollziehbar. Der Terrorismus stelle eine globale Bedrohung dar.

Der britische Außenminister Jack Straw sieht keinen Zusammenhang zwischen der Beteiligung seines Landes am Irakkrieg und den Anschlägen auf britische Ziele in Istanbul. Er glaubt, dass die Beitrittschancen der Türkei durch die Anschläge steigen. „Das wird unser aller Entschlossenheit stärken, die Türkei als Vollmitglied der Europäischen Union zu sehen“, sagte Straw gestern Morgen bei seinem Besuch in Istanbul. Ähnlich äußerte sich Bundesinnenminister Otto Schily: „Die Antwort auf das, was in Istanbul geschehen ist, kann nur heißen, dass wir enger mit der Türkei kooperieren. Und dass wir ernsthaft die Perspektive auf einen EU-Beitritt verhandeln, so lange das auch dauern mag“, sagte er im ZDF.

Ein Sprecher von Erweiterungskommissar Günter Verheugen erinnerte in Brüssel daran, dass sich der Europäische Rat von Kopenhagen vor einem Jahr auf einen genauen Fahrplan für den EU-Beitritt verständigt habe. Im November 2004 soll die EU-Kommission einen weiteren Fortschrittsbericht vorlegen. Auf dieser Grundlage wollen die Staatschefs beim Gipfel im Dezember 2004 entscheiden, ob Verhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden. „Die Anwartschaft der Türkei stellt niemand in Frage“, sagte der Sprecher. Kommissionspräsident Romano Prodi betonte: „Unsere Antwort muss einhellig sein. Wir brauchen eine einheitliche Strategie, um den Terrorismus zu bekämpfen. Sie muss politisch, diplomatisch und sozial sein – nicht nur militärisch.“

Der grüne Europaabgeordnete Johannes Voggenhuber warnte dagegen vor irrationalen Reaktionen. „Die Vorfälle in Istanbul haben mit der politischen Einigung Europas nicht das Geringste zu tun. Dann hätten wir Israel und Marokko doch längst aufnehmen müssen. Wir ernten jetzt die giftigen Früchte des Krieges, den die Bush-Administration angezettelt hat.“

DANIELA WEINGÄRTNER