Der lange Abschied

TSCHERNOBYL Zum 29. Jahrstag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wird diesen Sonntag wieder in Brokdorf demonstriert. Dabei haben die AtomkraftgegnerInnen doch längst gewonnen – oder etwa nicht? ➤ Schwerpunkt SEITE 43–45

VON SVEN-MICHAEL VEIT

Die Kette stand. Über rund 120 Kilometer reichte sie entlang der Unterelbe vom Atomkraftwerk Brunsbüttel bis zum Atomkraftwerk Krümmel. Schätzungsweise 120.000 Menschen waren an diesem 25. April 2010 auf den Straßen und Elbdeichen im Norden unterwegs, es war der bis dahin größte Anti-Atom-Protesttag in Deutschland. Diverse Anti-Atom-Initiativen hatten zum 24. Jahrestag der Reaktorkatastrophe im ukrainische Tschernobyl dazu aufgerufen.

Grund waren die Pläne der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung, den rot-grünen Atomkonsens aus dem Jahr 2000 zu kippen und vielen Atommeilern Laufzeitverlängerungen zu erlauben. „Es ist absurd, wie hier Angst vor der Kernenergie geschürt wird“, ätzte CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe über den Protest.

Elf Monate später, im März 2011, passierte der nächste GAU – der größte anzunehmende Unfall einer Kernschmelze – im japanischen Fukushima. Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm das gesamte, erst kürzlich von ihr beschlossene Atomförderungspaket zurück und rief die Energiewende aus. Zu den ersten deutschen Meilern, die im August 2011 stillgelegt wurden, gehörten im Norden Brunsbüttel und Krümmel in Schleswig-Holstein sowie Unterweser in Niedersachsen, nur drei sind noch in Betrieb: Brokdorf an der Unterelbe und Grohnde bei Hameln bis Ende 2021 und das Atomkraftwerk Emsland noch ein Jahr länger.

Wegen Fukushima demonstrierten Ende März 2011 sogar mehr als 250.000 Menschen bundesweit für den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie, einen Monat später, an einem Ostermontag, waren es erneut mehr als 100.000 Menschen, die anlässlich des 25. Jahrestags von Tschernobyl einen raschen Ausstieg forderten. Norddeutsches Zentrum war dieses Mal Grohnde, das von über 10.000 AKW-Gegnern umzingelt wurde.

Inzwischen ist, nicht zuletzt wegen vieler stillgelegter Meiler und der erfolgreich angelaufenen Energiewende, der Protest deutlich abgeflaut. Auch in Brokdorf, wo unentwegt Jahr für Jahr zum Gedenken an Tschernobyl protestiert wird, versammeln sich kaum noch 1.000 Menschen. An diesem Sonntag, an dem etwa zwei Dutzend Initiativen und Gruppen sowie die schleswig-holsteinischen Grünen wieder eine Aktions- und Kulturmeile vor dem Reaktorgelände veranstalten, wird das kaum anders sein.

Denn zwar sorgt ein Biohof aus der Region für ökologisches Essen, doch was heißt das schon? Atomfreund Hermann Gröhe ist inzwischen Bundesgesundheitsminister – und setzt sich ebenfalls für gesunde und unbelastete Nahrung ein.