Zwei Flaggen im Streit

HANOI, BERLIN Der Riss, der noch 40 Jahre nach Kriegsende durch die vietnamesische Gemeinde Berlins geht, hat seine eigenen Farben

■ Heute vor 40 Jahren endete der Vietnamkrieg mit dem Einzug der Kommunistischen Armee in Saigon. Die USA hatten schon zwei Jahre zuvor nach den Pariser Verträgen ihre Truppen abgezogen.

■ Bis heute gibt es zwei Sichten auf den Krieg: Mit dem Einzug in Saigon befreite die kommunistische Armee den Süden und einte das Land, sagen die einen. Nach der Eroberung des Südens stahlen die Kommunisten den Menschen das Land, sorgten für Chaos und steckten Tausende in Umerziehungslager, sagen die anderen.

■ Aufgrund seiner besonderen Geschichte ist Berlin die einzige Stadt der Welt, in der beide Seiten starke Communitys haben. In den 1980er Jahren kamen südvietnamesische Flüchtlinge in den Westen der Stadt, überwiegend nordvietnamesische Vertragsarbeiter, und Studenten in den Osten. (mai)

VON MARINA MAI

Als vor 40 Jahren der Vietnamkrieg zu Ende ging, war Long P. noch nicht geboren. Seine Familie floh 1981 mit einem wackligen Boot über das Meer, wurde von Rupert Neudecks „Cap Anamur“ gerettet und nach Deutschland gebracht. Da war der Südvietnamese knapp zwei Jahre alt. Erinnerungen daran hat er keine, und doch haben diese Ereignisse sein Leben geprägt.

Der Bankkaufmann wuchs in Westberlins vietnamesischer Exilgemeinde auf. Deren Zusammenkünfte sind von Kriegs- und Fluchterfahrungen geprägt. Zum Tet-Fest, dem vietnamesischen Neujahrsfest im Januar oder Februar, trifft man sich in der TU-Mensa unter der gelben Fahne mit den drei orangefarbenen Streifen. Es ist die Fahne der 1975 besiegten Saigoner Republik. Aus der Sicht von Long P. und seiner Familie steht sie für Vietnam.

Den heutigen Jahrestag des Kriegsendes, der in Vietnam als Feiertag begangen wird, bezeichnet der Bootsflüchtlingsverein „Danke Deutschland e. V.“ auf seiner Website als „40. Nationaltrauertag der Vietnamesen.“ Am vergangenen Samstag demonstrierte der Verein auf dem Pariser Platz für Menschenrechte in Vietnam – mit viel Gelb-Orange.

Hang N. ist 23 Jahre alt und studiert in Berlin. Für sie ist Vietnams Fahne die rote mit dem gelben Stern, die offizielle Staatsflagge. N. wuchs in Chemnitz als Tochter vietnamesischer Vertragsarbeiter auf. Für ihre Eltern war es eine Ehre, durch ihren sozialistischen Staat in die DDR entsandt zu werden. „Bei Feiern von Landsleuten in Chemnitz und in Lichtenberg, wo ich heute wohne, hängt die vietnamesische Flagge oft neben der deutschen“, erzählt N., „oft singen die alten Leute auch die Hymne und begrüßen als Ehrengast jemanden von der Botschaft.“

Dass sich einige ihrer Landsleute unter gelb-orangen Fahne treffen, weiß Hang N. erst, seit sie in Berlin lebt. „In Chemnitz gab es keine Bootsflüchtlinge.“ Die gelb-orange Fahne nennen Vietnamesen in Ostdeutschland „Spalterflagge“, weiß sie. „Wenn sie die sehen, ergreifen viele die Flucht. Sie wollen um nichts in der Welt mit ihr in Zusammenhang gebracht werden.“

Rund 22.000 ethnische Vietnamesen leben in Berlin, ein Drittel von ihnen hat einen deutschen Pass. Etwa die Hälfte wohnt in Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf, die andere Hälfte über die ganze Stadt verteilt. Damit sind Vietnamesen die größte außereuropäische Zuwanderergruppe. Aber immer noch geht ein Riss durch das vietnamesische Berlin: im Osten die ehemaligen Vertragsarbeiter, im Westen die Bootsflüchtlinge. Sie sind einander fremd geblieben.

Das Dong Xuan Center in Lichtenberg, Europas drittgrößter Asiamarkt, und dessen kleine Schwester, das Pacific-Center in Hohenschönhausen, haben sich zu Zentren vietnamesischen Lebens entwickelt. Hier verkaufen Großhändler Klamotten, Kunstblumen und Ausrüstungen für Nagelstudios an Landsleute, die zwischen Rügen und Thüringen Einzelhandel betreiben. Hier gibt es Dolmetscher, Reisebüros, eine vietnamesische Fahrschule. Und hier weht die rote Flagge.

Zentrum des anderen vietnamesischen Berlin ist die Linh-Thuu-Pagode in Spandau, unweit eines schwedischen Möbelhauses. Hierher kommen buddhistische Vietnamesen. Sie zünden Räucherstäbchen an und schicken den Weihrauch zu ihren Ahnen im Jenseits.

Kommerz im Osten, Religion im Westen – sind das die Gegensätze des vietnamesischen Berlin? Long P. stutzt. „Irgendwie schon. Wir Vietnamesen im Westen sind gläubiger. Die im Osten haben fast nur ihr Geschäft im Kopf.“ Das Familiengeschäft. Denn nach der Wende blieb vielen ehemaligen Vertragsarbeitern zur Selbstständigkeit keine Alternative. Sie bedeutet Selbstausbeutung rund um die Uhr, oft sieben Tage in der Woche.

Sowohl die Linh-Thuu-Pagode als auch die Asiamärkte haben sich für die jeweils andere Community zu öffnen versucht. Die spendenfinanzierte Pagode will die Gelder der reichen Kaufleute aus dem Osten nicht missen, die hier für das Gelingen eines Geschäfts oder ihre Ahnen beten. Deshalb verzichten die Nonnen, die sonst aus ihrer scharfen Kritik am vietnamesischen Staat keinen Hehl machen, schon lange auf die gelb-orange Fahne. Auch das Dong Xuan Center hat nichts gegen Kunden aus dem Westteil der Stadt, auch wenn sie oft nur Lebensmittel für den eigenen Bedarf kaufen, den Friseur oder einen Massagesalon aufsuchen. Kleinvieh macht auch Mist.

Kein Jubel am Jahrestag

„Die Vietnamesen im Osten wollen keine direkte Veranstaltung zum 40. Jahrestag der Befreiung machen, um nicht die Vietnamesen im Westen auszuschließen“, erzählt Tamara Hentschel von der Hellersdorfer „Reistrommel“. Der Verein plant zum Jahrestag eine Kaffeerunde mit Filmausschnitten und Zeitzeugenberichten. „Nichts Großes“, so Hentschel. Andere Vereine im Osten machten es ähnlich. Das Bedürfnis, das Kriegsende zu begehen, sei ja da bei den Mitgliedern.

Long P. ist heute 35, sein Herz schlägt für Hertha und die vietnamesische Fußballnationalmannschaft. „Aber mich in die vietnamesische Staatsflagge zu hüllen, wenn die Nationalmannschaft spielt, wie es viele Fußballfans im Osten tun, das kommt für mich nicht infrage“, sagt er. „Das ist nicht meine Fahne.“

Ho Chi Minh im Ahnenaltar? Für Westberliner Vietnamesen ist das ein Problem

Anders als seine Eltern hat P. immerhin mehrmals Urlaub in Vietnam gemacht. Gerade trennt er sich von seiner deutschen Frau. „Vor der Ehe hatte ich mal eine Beziehung zu einer Nordvietnamesin in Berlin. Aber das haben meine Eltern nicht akzeptiert“, erinnert er sich.

Zum Eklat kam es, als seine Eltern ihre Eltern besuchten. „In deren Ahnenaltar im Wohnzimmer stand neben den Fotos der verstorbenen Angehörigen auch eine kleine Büste von Ho Chi Minh“, erzählt Long P. Den Revolutionsführer, der 1945 die unabhängige Republik ausrief, verehren Nordvietnamesen als „Onkel Ho“, oft mit religionsähnlichen Zügen. „Das ging für meine Eltern gar nicht“, sagt P. „Für sie ist Ho Chi Minh ein Verräter.“

Hang N. hat andere Probleme: „Meinen Freund habe ich kennengelernt, als ich nach dem Abi ein Jahr in Vietnam gearbeitet habe.“ Er stammt aus einer reichen Hanoier Familie und studiert Medizin – für N.s Eltern eine gute Partie. „Damals hatte ich vor, nach dem Studium in Berlin mit ihm in Vietnam zu leben. Meine Eltern wären mitgekommen. Sie träumen davon, ihren Lebensabend in der Heimat zu verbringen.“

Vietnam wirbt um Rückkehrer wie Hang N., die im Ausland gelebt und eine akademische Ausbildung erworben haben. Nur: „Seit ich in das studentische Leben eingetaucht bin, fühle ich Berlin als meine Heimat“, sagt N., „eigentlich will ich hierbleiben.“ Für ihren Partner, ihre Eltern und ihre Schwiegereltern sei das schwer zu akzeptieren.

Long P. hat solche Probleme nicht: Seine Eltern akzeptieren wie fast alle Bootsflüchtlinge Berlin als Heimat.