Mit vitalem Schwung in den grauen Bereich

SACHBUCH Innerhalb von 100 Jahren hat unsere Lebenserwartung sich verdoppelt. Trotz Gebrechen und Behinderungen können wir auch die letzten Lebensjahre noch genießen, schreibt Rudi Westendorp. Lebensqualität ist für den Mediziner vor allem eine soziale Aufgabe

Am wichtigsten ist die Förderung der eigenen Fähigkeiten älterer Menschen

VON LARS KLAASSEN

Aafje lebt in der niederländischen Stadt Leiden. Die 96-Jährige fährt mit ihrem Elektromobil zum Bäcker oder trinkt bei schönem Wetter auf der Terrasse des Cafés in der Nachbarschaft einen Espresso. Rudi Westendorp kennt Aafje vom Sehen auf der Straße. Manchmal fuhr sie mit dem Taxi an ihm vorbei, um etwas zu erledigen, sich zum Beispiel die Haare schneiden zu lassen. Der Arzt, Professor für Medizin an der Universität Leiden und Gründungsdirektor der Leidener Akademie für Vitalität und Altern, hatte auch schon beruflich mit der alten Dame zu tun – aber nicht als Patientin. Als Expertin für die Frage, wie man sein Leben im hohen Alter meistert, konnte sie Sozialarbeitern neue Perspektiven eröffnen, die über gewohnte organisatorische Aspekte hinausgehen: Wie man mit Verlust, Krankheit und Gebrechen, mit einem ungelenken und inkontinenten Körper umgehen und trotzdem noch die Kontrolle über sein Leben behalten und seine Würde wahren kann. Sie hatte ihren Mann verloren und ihr „fantastisches“ Haus verlassen müssen. Sie kann sich nicht mehr selbst ausziehen, geschweige denn alleine duschen. „Mit ihrem schelmischen Lächeln und der gepflegten Frisur machte Aafje einen zerbrechlichen, aber überwältigenden Eindruck“, erinnert sich Westendorp. „,Loslassen‘, sagte sie uns, du musst alles loslassen.‘“

Menschen wie Aafje haben Westendorp ermuntert, ein Buch zu schreiben, in dem seine fast 20-jährige Beschäftigung mit Geriatrie einfließt: Alt werden, ohne alt zu sein. „Eine echte Antwort auf die Frage, wie das gelingen soll, liegt in unserer eigenen sozialen und seelischen Flexibilität“, so der Autor. „Ich bin jedes Mal wieder berührt von älteren Menschen, die trotz Gebrechen und Behinderungen vital im Leben stehen und sich ein Gefühl des Wohlempfindens erhalten.“ Nie zuvor sind die Menschen so alt geworden wie heute. Es handelt sich um den radikalsten Wandel in unserer Gesellschaft seit der Industrialisierung. Und ein Ende ist nicht in Sicht: „Jede Woche fügen wir ein Wochenende zu unserer Lebenszeit hinzu, ohne dass die kranke Zeit im Alter zunimmt“, rechnet Westendorp vor. „75 ist das neue 65.“ Aber haben wir auf das lange Leben schon die richtigen Antworten? Was bedeutet es für unsere Biografien, für die Organisation unserer Gesellschaft? Kann man mit 75 noch ein neues Leben anfangen?

Als Mediziner stellt der Autor zunächst einmal dar, was es mit dem Alterungsprozess naturwissenschaftlich überhaupt auf sich hat: „Wir kämpfen gegen eine Anhäufung minimaler Beschädigungen, die uns allein deshalb treffen, weil wir existieren. Aus biologisch-evolutionärer Sicht spricht nichts dafür, alt zu werden.“ Seine gute Nachricht lautet: „Dank der medizinisch-technischen Entwicklungen bedingen sich biologisches und kalendarisches Alter jedoch immer weniger.“ Wir bleiben also länger gesund. Und selbst wenn wir krank werden, muss das unseren Alltag noch nicht beeinflussen. Regelmäßige Arztbesuche und Medikamente können uns noch viele Jahre wie gewohnt weitermachen lassen, ohne dass wir bemerken, dass unser Körper nicht mehr so funktioniert wie in früheren Jahren. Was sich in den vergangenen 100 Jahren nicht verändert hat: Im Schnitt spüren wir in den letzten zehn Jahren unseres Lebens deutliche Beeinträchtigungen. Doch diese letzten zehn Jahre erreichen wir erst deutlich später. „Betrug die durchschnittliche Lebenserwartung vor einigen Generationen noch circa vierzig Jahre, hat sie sich in den entwickelten Ländern heute in etwa verdoppelt“, so Westendorp. „Wir bleiben auch länger gesund.“

Diese an sich erfreuliche Entwicklung wirkt sich auf unser gesamtes gesellschaftliches Leben aus. War man in einer althergebrachten Umgebung nach achtzehn Jahren ausreichend auf das Leben vorbereitet, werden heute an einen Erwachsenen in psychischer und emotionaler Hinsicht viel höhere Anforderungen gestellt, er muss nach dem achtzehnten Lebensjahr noch viel dazulernen. Und diese Erwartung scheint eher zu- als abzunehmen. In der modernen Zeit müssen wir uns ein Leben lang weiterentwickeln. Die sozialen und technischen Entwicklungen folgen so schnell aufeinander, dass einmal erworbenes Wissen und einmal erworbene Fähigkeiten schnell veralten und Menschen gesellschaftlich rasch ins Hintertreffen geraten. Möglicherweise haben viele Männer aus diesem Grund heute bereits vor ihrem fünfzigsten Geburtstag den Gipfel ihrer Karriere erreicht. Umgekehrt werden Frauen mit dreißig gesellschaftlich nicht mehr ausrangiert. „In all diesen Veränderungen lassen sich nur schwer Gesetzmäßigkeiten entdecken“, schreibt Westendorp. „Jede Zeit, jede Gesellschaft hat ihre Chancen, ihre Moral und ihre Gepflogenheiten. Aber was wir von uns selbst und in sozialer Hinsicht voneinander erwarten, lässt sich natürlich nicht völlig von unserem biologischen Alter abkoppeln, von dem Zeitpunkt, an dem wir erwachsen sind oder krank und abhängig werden.“

Das Buch zeigt Möglichkeiten und Grenzen des medizinischen Fortschritts auf: „Ich habe kein simples Rezept, das die Gebrechen des Alters abwenden, abmildern oder erleichtern könnte“, schreibt Westendorp, macht aber eine Reihe von Vorschlägen, damit besser umzugehen – etwa zur Reform des Arbeitsmarktes, zur Wohnungsbaupolitik und zur Organisation von Pflege. Vor allem gesellschaftliche Aspekte würden bislang sträflich unterschätzt, mahnt der Autor und führt dazu erstaunliche Beispiele auf: „Ältere Menschen mit einem schwachen sozialen Netzwerk haben ein höheres Sterberisiko als Raucher, obwohl Rauchen als einer der größten Risikofaktoren für Krankheit und Streben gilt.“ Westendorp fordert dazu auf, mehr Kreativität bei der Gestaltung unserer Lebensläufe an den Tag zu legen: „Die wichtigste Aufgabe ist die Förderung der eigenen Fähigkeiten der älteren Menschen.“

Rudi Westendorp: „Alt werden, ohne alt zu sein. Was heute möglich ist“. C.H. Beck, München 2015, 288 Seiten, gebunden, 19,95 €