Die Abschaffung des Kapitalismus: „Weg vom Zwang zur Arbeit“

Der Neoliberalismus funktioniert nicht, sagen Nick Srnicek und Alex Williams. Sie fordern in „Die Zukunft erfinden“ eine populistische Linke.

Drei Menschen laufen in der Morgensonne eine Straße entlang

Es ist ein langer Weg in eine Zukunft ohne Lohnarbeit – man sollte frühzeitig aufbrechen Foto: dpa

taz.am wochenende: Herr Srnicek, Herr Williams, Sie fordern in ihrem Buch „Die Zukunft erfinden“ eine neue linke Politik. Jetzt, da Trump die Wahl gewonnen hat, ist es da nicht zynisch, dass nicht die Linke, sondern ein männlicher weißer Rechter die Zukunft „neu erfindet“?

Nick Srnicek: Trump ist das Gegenteil unseres Anliegens. Sein Projekt ist eine Hochglanznostalgiefantasie der USA vor der Civil-Rights-Bewegung, vor der Deindustrialisierung und vor dem Frauenwahlrecht. „Make America great again“ schmachtet nach einer verlorenen Vergangenheit, nicht nach einer neuen Zukunft.

Wie lässt sich diesem Konservatismus begegnen?

Alex Williams: Wir benötigen vor allem mehr Aktivismus wie die Standing-Rock-Bewegung, die in Dakota erfolgreich den Bau einer Pipeline und damit mehr unnötigen CO2-Ausstoß verhindert hat. Außerdem sollten wir jetzt die Rechte von Minderheiten, also Migranten, LGTB-Personen und People of Colour, verteidigen und solidarische Netzwerke knüpfen. Black Lives Matter macht hier eine gute Arbeit und wird unter Trump noch wichtiger.

Sind das nicht eher reaktive Maßnahmen, also jene, die Sie theoretisch kritisieren?

Williams: Ja, aber sie sind in den USA unmittelbar wichtig für das Überleben im Angesicht der extremen Rechten. Grundsätzlich benötigen wir jedoch eine linke Idee, die Menschen erreicht und mobilisiert. Kleinteilige technokratische Reformen werden nicht helfen, es braucht eine Alternative zu Trumps scheinheiligen Sicherheits- und Komfortversprechen.

Sie fordern wie der Theoretiker Ernesto Laclau eine populistische Linke, die in der Lage ist, mit marginalisierten Gruppen zu kommunizieren. Glauben Sie, dass ein linker Populismus Trump hätte verhindern können?

Williams: An erster Stelle eines linken Populismus muss stehen, dass er keine Minderheiten ausschließt. Das unterscheidet ihn von rechtem Populismus. Er darf nicht rein rhetorisch oder diskursiv sein, muss aber zugleich einen Gegner identifizieren und dabei strukturelle Bedingungen beachten, darunter auch die Klasse.

Bei der steigenden Arbeitslosigkeit machen viele, die rechts wählen, nicht die Wirtschaft, sondern die Migrationspolitik verantwortlich und fordern eine radikale Abschottung. Sie hingegen schlagen eine „Post-Arbeits-Welt“ vor, mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, einer „Vollautomatisierung“, einer Verkürzung der Arbeitszeit und einer vollständigen Emanzipation. Die sozialdemokratische Forderung nach Vollbeschäftigung müsse durch „Vollarbeitslosigkeit“ ersetzt werden. Warum?

Srnicek: Wir müssen weg vom Zwang zur Lohnarbeit. Eine Post-Arbeits-Welt bietet die Freiheit, sich aussuchen zu können, wie viel und wo wir arbeiten, aber auch die Freiheit, unsere Zeit mit Projekten zu verbringen, die uns selbst wichtig sind. Wir möchten keine Welt ohne Arbeit im engeren Sinne, aber eine ohne den Zwang zur Lohnarbeit. Stattdessen sollten wir beginnen, kollektiv eine andere Gesellschaft zu gestalten.

Angenommen, niemand müsste mehr arbeiten. Inwiefern kann das ein emanzipatorisches Projekt sein, wenn man davon ausgehen muss, dass viele Menschen auch arbeiten, um sich mit einer Sache zu identifizieren und auch soziale Anerkennung zu erfahren?

Williams: Lohnarbeit hat zweifellos verschiedene Funktionen. Sie befriedigt das Bedürfnis, etwas gut zu machen, ein Projekt und ein Einkommen zu haben. Aber wenn wir keine Arbeit haben, riskieren wir den sozialen Absturz, vielleicht sogar Obdachlosigkeit. Wir möchten den Zwang abschaffen, der uns aus Verzweiflung jeden Job machen lässt, egal wie schlecht bezahlt er ist. Viel zu viele Menschen verbringen heute den größten Teil ihres Lebens damit, in Jobs zu arbeiten, die sie nicht mögen.

Eine Ihrer Thesen ist, dass der Neoliberalismus strategisch installiert wurde. Vor allem von Thinktanks und später in der akademischen Lehre. Sie nennen das als einen „hyperstitionalen“ Prozess, bei der eine Idee zur Wirklichkeit, die Zukunft in der Gegenwart wirksam wird. Wie kam es dazu?

Srnicek: Die Standardgeschichte über den Neoliberalismus ist, dass er in den 1970er Jahren entstanden ist und sich in den 80er Jahren verfestigt hat. Worauf wir im Anschluss an einige exzellente TheoretikerInnen hinweisen wollten, ist, dass es ein wesentlich länger geplantes Projekt ist, als das angenommen wird, und sich irgendwann als Bollwerk gegen den Keynesianismus etabliert hat.

. . . eine markwirtschaftliche Denkrichtung, die im Gegensatz zum marktradikalen Liberalismus für den Eingriff des Staates in die Wirtschaft plädiert . . .

Williams: Ja, und unser Interesse dient hier nicht nur der intellektuellen Neugier, sondern auch als historisches Fallbeispiel, das zeigt, wie Macht heute operiert. In gewisser Weise bestand das neoliberale Projekt vor allem darin, den sogenannten Common Sense zu verändern. Vor allem die Vorstellungen darüber, wofür der Staat zuständig ist, welche Rolle der Markt und die Arbeit spielt, wurde von neoliberalen Ideen transformiert. Das ist sehr graduell erfolgt und war ein langsamer ideologischer Kampf, den neoliberale Denker weitgehend über das Medium der Thinktanks ausgefochten haben.

Wenn sich dieses Projekt, wie geschehen, als vermeintlich alternativlose Wirtschaftsform erfinden lässt, sollte das mit der Zukunft doch auch funktionieren, oder?

Srnicek: Wir sind überzeugt davon, dass die Linke aus diesem historischen Beispiel lernen kann. Besonders, was die Notwendigkeit langer strategischer Planung angeht. Wir leben heute alle in einem neoliberalen Common Sense – und eine der Herausforderungen der Linken ist, da herauszukommen.

In Ihrem Buch kritisieren Sie immer wieder die Praktiken und Denkweisen linker Politik, die sie als „Folklorepolitik“ bezeichnen. Was meinen Sie damit?

Srnicek: Folklorepolitik ist die Fetischisierung von Unmittelbarkeit als Lösung politischer Probleme. Es ist das Bedürfnis, Politik auf lokaler Ebene zu betreiben und das Spontane über das Strategische zu stellen – etwa in Bewegungen wie Occupy. Das ist natürlich wichtig, aber in den letzten Jahren haben Teile der Linken in der Unmittelbarkeit den einzigen politischen Horizont gesehen. Statt die Gesellschaft als Ganzes in den Blick zu nehmen, hat das nur marginale Communitys am Rand der Gesellschaft geschaffen und defensive Bunker, um dem Kapitalismus zu widerstehen. Die Defensive ist oft wichtig, aber sie ist ineffizient.

Die Autoren: Nick Srnicek und Alex Williams sind die Verfasser des „Akzelerationistischen Manifests“, das viele Diskussionen über die Linke hinaus ausgelöst hat. In „Die Zukunft erfinden“ begründen sie ihre Thesen. Sie leben beide in London.

Das Buch: „Die Zukunft erfinden. Post­kapitalismus und eine Welt ohne Arbeit“. Aus dem Englischen von Thomas Atzert. Edition Tiamat, Berlin 2016, 383 Seiten, 24 Euro.

Die Linke ist in Deutschland sowohl ideologisch als auch parteipolitisch stark fragmentiert. Da gibt es die postsozialdemokratische SPD, die sozialökologischen Grünen und die eher klassisch antikapitalistische, pazifistische Partei Die Linke, die im Angesicht von rechten Parteien wie der AfD nun versucht, die unteren Schichten zu erreichen. Wie könnte eine Alternative zur folk politic aussehen?

Williams: Wir brauchen eine konterhegemoniale Politik, die nicht im Lokalen verharrt, sondern auf einen größeren Maßstab und längere Zeiträume abzielt. Statt sich ständig in der schwächeren Position zu sehen und direkte Ergebnisse zu fordern, brauchen wir eine Strategie, die stetig mehr Macht akkumuliert, vor allem an den Schlüsselstellen der Gesellschaft.

Hierbei besteht ja immer auch das Problem des Universalismus. Wie ist er möglich, ohne bestimmte Gruppen auszuschließen?

Srnicek: Das Problem des europäischen Universalismus ist, dass er nie universal genug war. Es gibt die krude Vorstellung, dass bereits existierende Universalismen auf andere übertragbar sind. Doch einer Politik, die sich links versteht, darf es nicht darum gehen, das Universale zu exportieren, sondern es sollte darum gehen, gemeinsam mit unterschiedlichen Gruppen an einem Projekt zu arbeiten, um herauszufinden, was universell sein muss. Dies muss zu jeder Zeit überprüfbar, nicht in Stein gemeißelt sein.

Wer ist das Subjekt der Veränderung?

Williams: Die Aussichten, dass ein westlicher Staat wie England oder Deutschland von einer revolutionären Elite abgelöst wird, ist gleich null. Die Linke muss flexibler sein und auf die Komplexität der Gegenwart eingehen. Es darf nicht, wie das bei vielen Linken eine Obsession ist, darum gehen, ein perfektes Modell zu schaffen. Besser wäre, gemeinsame Ziele zu formulieren und diese mit den bereits existierenden Parteien, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Thinktanks und zivilen Organisationen zu verknüpfen. Unterschiedliche Organisationen sind zu unterschiedlichen Handlungen in der Lage, weshalb es darauf ankommt, neue Bündnisse zu schaffen.

Das wird nicht einfach sein.

Srnicek: Die immer mehr an Macht gewinnenden autoritären Rechten haben keine Antworten auf die drei größten Bedrohungen für die Welt: Klimawandel, Automation, globale Migration. Wir stehen heute nicht einer neuen rechten Weltordnung gegenüber, sondern einer globalen hegemonialen Krise, dem Sterbebett des Neoliberalismus.

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