piwik no script img

Argentinischer Film „Kill the Jockey“Ein eigenwilliger Galopp

Der Regisseur Luis Ortega bürstet im Film „Kill the Jockey“ so einiges gegen den Strich. Er bietet Surrealismus, logische Brüche und viel Popmusik.

Tanzen, einfach so: Remo Manfredini (Nahuel Pérez Biscayart) und Abril (Úrsula Corberó) in „Kill the Jockey“ Foto: MFA

Wer Jockey werden will, entscheidet sich für das Risiko, verletzt zu werden. Wer Jockey werden kann, das ist vor allem eine Frage des Körpers. In den Sattel darf nur, wer ein exaktes Gewicht hält, das punktgenau gewogen wird. Drogen sind für Jockeys natürlich tabu, nicht jedoch bei Luis Ortega, der in „Kill the Jockey“ das Rei­te­r*in­nen­le­ben so entgrenzt zeigt, wie es wohl selten zu sehen war.

Klischees von Sport­le­r*in­nen als Adrenalinjunkies lässt er in besonders exzentrischen Figuren, erzählerischen Eskapaden und einem unberechenbaren Popmusikmix aufgehen, um in immer ironischeren dramaturgischen Finten die Grauzonen zwischen Leben und Tod, Trance und Wachkoma, Humor und Tragik zu erkunden.

Remo und Abril sind ein Liebespaar und reiten für Rubén – einen Verbrecher, der mit einer kleinen Bande von Kriminellen alle Zügel ihres Lebens in der Hand zu halten scheint. Remo wohnt in einer Scheune und wird von Rubéns Leuten bewacht, obwohl er im ganzen Land bekannt ist und als Star der argentinischen Jockeyszene gilt.

Seinem Ruf entsprechend benimmt er sich und hält mit Drogen nicht hinterm Berg: Ketamin mit Whisky und einer Kippe sind sein Warm-up vor dem ersten Rennen des Films, seine erfolgreichsten Tage scheinen hinter ihm zu liegen. Abril holt mittlerweile die Siege und sorgt bei den Bossen für gute Stimmung – nicht jedoch bei Remo, der sich mehr Zuneigung von ihr wünscht.

„Kill the Jockey“. Regie: Luis Ortega. Mit Nahuel Pérez Biscayart, Úrsula Corberó u. a. Argentinien/Mexiko/Spanien/Dänemark/USA 2024, 96 Min.

Als ob Abrils schwindende Liebe für Remo nicht tragisch genug wäre, verliert die Verbrecherbande auch noch die Geduld und setzt Remo ein Ultimatum: Er soll wieder zu seiner alten Form zurück, sonst wird er bei der nächsten Gelegenheit kaltgemacht. Für eine Million holen die Geldhaie ein Pferd namens Mishima aus Japan und hoffen auf den Gewinn ihres Lebens. Remo setzen sie auf Entzug, alles scheint nach Plan zu laufen. Doch schon kurz nach dem Start des großen Rennens gerät es aus den Fugen: Ein Unfall setzt Remo außer Gefecht und lässt ihn völlig verändert auferstehen, um zurück unter den Lebenden zu wandeln.

Abgründe und Absurditäten

Ortega lässt „Kill the Jockey“ in einem Milieu des korrupten Leistungssports spielen, wo Gewichtskontrollen, mentaler Stress, Prekarität, Ausbeutung und Geschäftsinteressen den Ton angeben. Bei den Reitturnieren seines Films sollen junge Männer und Frauen sich größten Gefahren für Leib und Leben aussetzen, nur um reichen Leuten eine unterhaltsame Show und einen Anlass zu ihren Sportwetten zu liefern. Aus den Abgründen und Absurditäten des Settings entspinnt er eine fiebrige, rastlose Unterwelt voller schillernder Stilblüten.

Statt Pferderennen zu präsentieren, zeigt Ortega lieber die Uniformen der Reiter*innen, wendet sich immer wieder gegen Erwartungen, lässt erst den Realismus auf der Strecke bleiben, dann die Logik. „Kill the Jockey“ entwickelt sich über wild zusammengewürfelte Versatzstücke aus Sozialdramen und Charakterstudien, aus Gangsterfilmen, Musikvideos, Geistergeschichten und absurden Komödien zielstrebig zu einer doppelbödigen filmischen Aus­einan­dersetzung mit Stillstand, Hoffnung und Weiterentwicklung in einer Welt, die tragisch wäre, wenn der Film sie weniger absurd und leichtfüßig erzählen würde.

Ortega entwickelt seinen Film vor allem körperlich, lässt seinen Hauptdarsteller Nahuel Pérez ­Biscayart schwitzend durch die verwinkelten Gänge einer Pferderennbahn jagen, immer auf der Suche nach dem nächsten Rausch, wirbelt ihn durch die Luft wie im Slapstick, lässt ihn tanzen, keuchen, starren, rauchen, filmt ihn oftmals aus nächster Nähe. Ein sonderbarer Verband ziert in einem Teil des Films seinen Kopf, verdeckt eine Wunde und erweitert den Schädel zu einem Ei oder Kokon, eine seiner Pupillen verformt sich beim Unfall, fortan schminkt er sich, dann wechselt sein Geschlecht, schließlich auch sein Name, von Remo zu ­Dolores.

Launenhafte Welt der Geschwindigkeit

Bald verliert sein Körper das Gewicht, ist nicht mehr zu wiegen, nicht mehr greifbar, nicht mehr definierbar, widersetzt sich der Schwerkraft, transformiert sich schließlich ganz und gar in eine neue Form. Ortega spielt durch, was vorstellbar und unvorstellbar ist in seiner launenhaften Welt der Geschwindigkeit und des Verbrechens, nimmt dabei keine Situation so ernst, dass man sie wirklich mit der Realität verwechseln könnte.

„Kill the Jockey“ ist ein Film mit durch und durch eigenem Regelwerk und Zeichensystem, der sich am Sport, an der Popkultur und an queeren Körperpolitiken umfassend bedient, aber in der Summe seine Verbindlichkeit der Welt gegenüber aufkündigt.

Aus der argentinischen Independent-Filmszene hat sich Luis Ortega seit seinem Regiedebüt von 2002 zu einem gefragten Regiestar in der Kino- und TV-Branche seines Lands entwickelt. Mit „Kill the Jockey“ wurde er kürzlich bereits zum zweiten Mal ins Rennen um den Preis für den besten internationalen Film geschickt, zuvor 2018 mit „El Ángel“. Mit beiden Filmen wurde er zu den Wettbewerben der größten euro­päi­schen Filmfestivals in Cannes und Venedig eingeladen. Damit verbunden: unterschiedlichen Erwartungen an seine Kunst und eine umso größere Herausforderung, den Sinn für einen eigenen Stil zu bewahren.

Verschiedene Ideen von Kino prallen aufeinander

Mit „El Ángel“ gab er sich dem geradlinigen Erzählkino hin und drehte einen geistreichen, aber gefälligen Film über Schönheit, Jugend und Verbrechen, der es dem Publikum auffällig leicht machte. Nun hat er sich für eine künstlerische Kehrtwende entschieden und lässt ganz verschiedene Ideen von Kino auf unwahrscheinliche Weise aufeinanderprallen. Immer wieder wechselt er den Modus zwischen sinnlichen Szenen mit überbordendem und überdeutlich illustrativem Musikeinsatz und rätselhaften, komischen und symbolischen Momenten.

Empfohlener externer Inhalt

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob Sie dieses Element auch sehen wollen:

Trailer „Kill the Jockey“

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Am stärksten ist „Kill the Jockey“, wenn Ortega sich mit einem platten Witz oder einem schrägen Kommentar der posenhaften Eleganz entgegenstellt, die im Programm zahlreicher europäischer Filmfestivals heute Hochkonjunktur hat. Auf spezialisierten Veranstaltungen wie dem FIDMarseille oder dem ­Locarno Film Festival kommt besonders gut ein Kino an, in dem Aka­de­mi­ke­r*in­nen die Welt kritisch-reflektiert durchschauen, moralisch auf der richtigen Seite der Geschichte stehen und ihre Selbstkritik gleich mitliefern. Programmentscheidungen internationaler Ku­ra­to­r*in­nen werden immer gleichförmiger.

Ortega hingegen grenzt sich mit seinem Film merklich vom über jeden Zweifel erhabenen, intellektuellen Festivalkino ab und sucht Zuflucht vor geschlossenen Per­spektiven in der Wildheit des Surrealis­mus, in den Zeichenspielen des Musikfilms, in der scharfzüngigen Schamlosigkeit und radikalen Empathie der Dragszene. Er macht sich lustig über den hyperspezialisierten Menschen – den Jockey, der seine Berufskleidung wie eine zweite Haut trägt und zur Karikatur und zum popkulturellen Rätsel wird. Er verweigert Psychologisierungen und Annahmen über Personen aufgrund ihrer sozialen Klasse oder ihres Geschlechts.

Die einzig feste Größe seines Films ist der unaufhörliche und unerhörte Wandel, die Abkehr von Sicherheiten, Deutungshoheiten und Konventionen. Stattdessen: ein eigenwilliger Galopp mit unbestimmtem Ziel, getrieben von der Hoffnung, dass das Schicksal seinen Sinn für Ironie nie verlieren möge. Und immerzu die hypnotischen Augen von Nahuel Pérez Biscayart.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare