Armee in der Ukraine: Von einstiger Größe nichts übrig

Die Regierungsstreitkräfte sind unterversorgt und schlecht ausgestattet. Nun sollen wegen der Kämpfe im Osten bis zu 90.000 Soldaten rekrutiert werden.

Ein ukrainischer Soldat mit Kind im Arm bei seiner Vereidigung in Kiew. Bild: dpa

KIEW taz | Nach dem Zerfall der Sowjetunion unterhielt die Ukraine lange Zeit eine der mächtigsten Armeen Europas, ausgestattet mit Atomwaffen und modernster Waffentechnik. 23 Jahre nach der Unabhängigkeit ist davon nur wenig geblieben. Durch das Budapester Memorandum von 1994 verlor die Ukraine ihre Atomwaffen. Die Idee, eine Berufsarmee zu schaffen, war stets Thema vor den Wahlen, wurde aber nicht umgesetzt.

Anfang 2014 hatte die Ukraine 168.000 Mann unter Waffen – davon 125.000 Wehrdienstleistende. Da ein immer größerer Teil der Soldaten mit der technischen Versorgung der Armee befasst war, wurden die Kampfeinheiten immer kleiner. Ein Experte, der annonym bleiben möchte, beschreibt den Zustand der Armee so: „Noch vor einem halben Jahr hätte die ukrainische Armee mit links von den Garden des Vatikan geschlagen werden können.“

Gegenwärtig gibt es in der Ukraine ein dreiteiliges System: operatives Oberkommando – Korps – Brigade. Das westliche Oberkommando hat seinen Stab in Lwow, das südliche in Dnepropetrowsk und das nördliche in Kiew. Jedem von ihnen sind je drei Korps unterstellt, die 13 Brigaden beinhalten: je zwei Panzerbrigaden, acht Panzerfahrzeugbrigaden, zwei Luftlandebrigaden und eine Fallschirmspringerbrigade.

Neben den regulären Streitkräften wurde in der Ukraine die Nationalgarde wiederbelebt, die 2000 aufgelöst worden war. Heutzutage besteht die Nationalgarde faktisch aus ehemaligen inneren Streitkräften, die dem Innenministerium unterstellt sind. Sie erfüllt im Prinzip die Funktion einer kampffähigen Polizei, die für Sicherheit im Land sorgt. Offiziell hat sie 60.000 Soldaten. Neben ehemaligen inneren Streitkräften haben sich ihr Maidan-Anhänger und patriotisch gesinnte Bürger als auch Organisationen angeschlossen, die die Waffen nach den Protesten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew nicht niederlegen wollten.

Es existieren zudem einige Bataillons aus Freiwilligen, die formal gesehen dem Innenministerium unterstellt sind, faktisch aber Privatarmeen von Oligarchen und Parlamentsabgeordneten sind. Sie machen etwas 10.000 Mann aus und werden meist an der Front eingesetzt.

Exporteur von Gebrauchtwaffen

Seit dem Beginn des Kriegs mit Russland hat sich die Armee deutlich vergrößert. Es gab zwei Mobilmachungen, bei denen insgesamt 80.000 Mann eingezogen wurden. Die dritte Mobilmachung, die Präsident Petro Poroschenko jetzt anordnete, ist geheim. Experten schätzen, dass die Regierung dieses Mal zwischen 50.000 und 90.000 Mann einziehen möchte. Das gilt auch für Reserveoffiziere. Laut unbestätigten Angaben betragen die Verluste auf Seiten der ukrainischen Armee 7.000 bis 8.000 Tote. Experten zufolge hatten die ukrainischen Truppen noch vor wenigen Jahren 786 Panzer, 2.304 gepanzerte Fahrzeuge und 1.122 Artilleriesysteme. Die Daten über die tatsächliche Waffenstärke werden streng geheim gehalten.

Immer mehr Experten behaupten heute, dass es der Ukraine an Kriegswaffen und -ausrüstung mangele. Die Kriegsgeräte wurden Jahr für Jahr ins Ausland verkauft, was das Land zu einem der größten Waffenexporteure der Welt machte. In beinahe jedem afrikanischen Land gibt es Panzer und Hubschrauber aus der Ukraine. Der Gewinn aus dem Verkauf ukrainischen Kriegsgeräts soll sich auf 32 Milliarden US-Dollar belaufen. Es kam sogar so weit, dass Technik, die für Einsätze in der Ukraine vorgesehen war, weiterverkauft wurde. So wurde die russische Mittelstrecken-Flugabwehrrakete Buk M1 an Georgien veräußert, als das Land 2008 Krieg gegen Russland führte.

Tatjana Tschornowol, die sich im Auftrag der Regierung mit dem Kampf gegen Korruption beschäftigt, ist besorgt über die Versorgung der Armee: „Den Streitkräften stehen noch ungefähr zehn Hubschrauber zur Verfügung. Das ist sehr wenig, besonders in Zeiten des Krieges.“ Bislang wurden im Osten sieben ukrainische Flugzeuge und acht Hubschrauber von prorussischen Kämpfern abgeschossen.

Das größte Problem heutzutage ist der Mangel an qualifizierten Soldaten und an technischer und materieller Versorgung. Vor Kurzem wurde in der Ukraine das Alter für die Rekrutierung angehoben. Reserveoffiziere können nach dem Ableisten ihres Dienstes bis zum 65. Lebensjahr eingezogen werden. Diese haben die sowjetische Schule durchlaufen, und die Regierung erhofft sich von diesen Erfahrungen profitieren zu können.

Die Jugend hat, selbst nach Spezialkursen, keine taktischen Kriegskenntnisse und kennt sich mit dem Gebrauch von Waffen nicht aus. Sie ist unerfahren, was im Kriegsfall zu hohen Verlusten führt. Wie hoch das Budget für die Armee ist, wird streng geheim gehalten. Ein Geheimnis ist es aber nicht, dass die Kassen leer sind. Die Soldaten werden von Freiwilligen mit Wasser, Essen und Hygieneartikeln versorgt.

Aus dem Russischen: Ljuba Naminova

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.