Armeniens Präsident im Interview: „Wir haben zivilisiert gehandelt“

Armeniens Parlament hat den Oppositionsführer Nikol Paschinian zum Premier gewählt. Das werde die politische Krise im Land beilegen, sagt Präsident Armen Sargsjan.

eine Menschenmenge, ein Mann hält ein Plakat mit einem Bild des Oppositionspolitikers Paschinjan in die Höhe

Proteste gegen die Regierung Anfang Mai in Jerewan Foto: ap

Das armenische Parlament hat den Oppositionsführer Nikol Paschinjan am Dienstag zum Regierungschef gewählt. Paschinjan führt seit Mitte April friedliche Straßenproteste in der Ex-Sowjetrepublik an. Mit der sogenannten Samtenen Revolution wurde Ministerpräsident Sersch Sargsjan zum Rücktritt gezwungen. Armeniens Präsident, Armen Sargsjan, äußert sich im taz-Interview über die Hintergründe der politischen Krise im Land.

taz: Herr Präsident, warum sind die Leute in Armenien so unzufrieden?

Armen Sargsjan: Die alten Menschen sind ärgerlich, weil ihre Pensionen oft zu niedrig sind. Die jungen Menschen sehen keine Zukunft. Ein großer Teil des Problems ist die Korruption. Die gibt es überall, aber es geht um den Maßstab und das Verhältnis der Öffentlichkeit zur Korruption. Viele sind unglücklich, weil dieses Land eine sehr polarisierte Gesellschaft hat.

Wenn die Bevölkerung so unzufrieden war, warum hat die bisherige Regierung nicht früher darauf reagiert?

Wenn sie zugehört hätte, wäre es nie zu dieser Situation gekommen. Sie hat nicht zugehört.

65, war 1996/97 Premier Armeniens. Seit März 2018 ist er Präsident.

Das heißt, Sie glauben nicht, dass Sie sich zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion entscheiden müssen?

Es ist für Armenien sehr wichtig, sich an seine Verpflichtungen gegenüber der Eurasischen Wirtschaftsunion zu halten. Armenien ist klein und das ist ein großer Markt. Wer würde sonst in Armenien investieren wollen? Das ist ein Tor zu einem großen Markt, der Russland, Zentralasien, Weißrussland und andere umfasst, also um die 200 Millionen Menschen. Gleichzeitig haben wir ein Abkommen mit der EU und sind damit eine einzigartige Brücke, über die europäisches Geld, Know-How und europäische Ideen nach Russland, Kasachstan, Weißrussland fließen können. Das ist eine klassische armenische Situation, in der wir in der Mitte sind.

Welche Rolle können Sie in diesen Tagen in Armenien spielen?

Meine Rolle als Präsident ist so ähnlich wie die des Präsidenten in Deutschland. Ich habe keine exekutiven Machtbefugnisse und ich bin derjenige, der die Einhaltung der Verfassung garantieren soll.

Und wie tun Sie das?

Als die Proteste immer größer wurden, wollte ich sicherstellen, dass weder die Demonstranten noch die Polizisten das Gesetz brechen. Ich wollte einen Dialog starten. Und dafür musste ich zu den Demonstranten gehen. Viele haben ja nicht geglaubt, dass der Präsident zu Fuß gehen kann. Dort habe ich die Anführer der Opposition getroffen. Mit Nikol Paschinian haben wir uns geeinigt, dass er sich am nächsten Tag mit Premierminister Sargsjan treffen würde.

Dort ist Nikol Paschinian dann verhaftet worden.

Er und zwei andere Mitglieder des Parlaments. Das war keine einfache Situation. Das geschah kurz vor dem 24. April, dem Gedenktag des Genozids, an dem viele Menschen auf den Straßen sind. Wir mussten erwarten, dass etwas Dramatisches passiert. Wir haben uns dann getroffen: der Premierminister Serzh Sargsjan , der Präsident von Nagorni-Karabach und der Katholikos, das Oberhaupt der Kirche. Wir haben ein Statement verfasst, in dem es hieß, der 24. solle ein Tag der nationalen Einheit sein. Danach ging der Vize-Premierminister dorthin, wo Paschinian und die beiden anderen Abgeordneten inhaftiert waren und sie wurden entlassen. Nach ein paar Stunden trat dann der Premierminister zurück. Dass ein Politiker dieses Kalibers nach einer Karriere von 30 Jahren eine solche Entscheidung trifft, das schätze ich sehr hoch ein. Am Ende des Tages war er ein verantwortungsvoller Politiker.

Sargsjan hat sich nach seinem Rücktritt entschuldigt. Das war ungewöhnlich.

Wir hatten bei diesen Protesten keine Zusammenstöße. Alle waren sich einig, dass es Dialog und einen verfassungsgemäßen Prozess geben muss. Das ist die größte Errungenschaft dieser Bewegung. Und die ist von allen erreicht worden, den Leuten auf der Straße, Polizisten, Studenten und von den Politikern. Wir haben gezeigt, dass wir zivilisiert handeln können.

Die Menschen hier setzen viele Hoffnungen in die Proteste und in einen Machtwechsel, aber die Probleme von Armenien können nicht so einfach gelöst werden. Sind die Menschen zu naiv?

Nein. Sie hatten den Mut, hinauszugehen und ihre Meinung zu äußern. Natürlich gibt es jetzt große Erwartungen. Aber das geschieht auch bei Wahlen in Europa: Man wählt jemanden und es gibt große Hoffnungen in der Gesellschaft, die entweder realisiert werden oder eben nicht. Das gehört zur Demokratie.

Glauben Sie, dass die Proteste für die armenische Demokratie heilsam waren?

Jedes rechtmäßige Ausdrücken von Gedanken und Ideen ist gesund. Leider gibt es ein sowjetisches Phänomen, das immer noch andauert. Die Leute haben Angst, etwas zu sagen. Und das hat doch in Ostdeutschland auch nicht sofort geendet, als die Berliner Mauer eingerissen wurde. Die Mauer im Kopf einzureißen, dauert Jahre. Ich habe als Professor an der Universität in Moskau Physik und Mathematik unterrichtet, da saßen 150 Studenten und wenn ich nach der Vorlesung fragte, ob jemand eine Frage habe, sah ich, dass sie alle Angst davor hatten zu fragen. So ist unsere Gesellschaft aufgebaut. Wir können uns nicht verständigen, wenn die Menschen weiter Angst vor ihrer eigenen Meinung haben.

Es gab bereits andere Proteste in Armenien, die oft sehr gewaltsam abgelaufen sind. Was ist dieses Mal anders?

Vor ungefähr zehn Jahren gab es Proteste nach einer anderen Wahl. Leider wurden damals zehn Menschen getötet. Die Frage ist, ob wir eine Lehre daraus gezogen haben. Für den Moment haben wir das wahrscheinlich.

Es gab eine Reihe von Protesten gegen autokratische Regime vor dem Aufbegehren in Armenien. Gibt es Gemeinsamkeiten zum Beispiel mit dem Maidan in der Ukraine?

Absolut nicht. Es ist ein großer Unterschied. Allein schon, weil wir ein vereintes Land haben, was in der Ukraine nicht der Fall war. Es ist anders, weil wir gezeigt haben, dass wir in unserem Land einen ordentlichen zivilisierten Dialog führen können.

Und gibt es einen russischen Einfluss bei dem, was gerade passiert?

Lassen wir die Russen beiseite. Wissen Sie, viele Leute sagen auch, es gebe einen europäischen Einfluss. Aber das hier ist ein armenisches Problem. Wenn man ein Problem im eigenen Haus hat, kann man nicht seinen Nachbar oder dessen Schwiegermutter beschuldigen, das bringt nichts.

Dieses Interview wurde während einer Journalistenreise geführt, die die Organisation European Friends of Armenia organisiert und finanziert hat. Fragen stellten neben Daniel Schulz noch drei andere Journalisten aus Deutschland, Italien und Spanien. Das Interview wurde vor der Abstimmung am Dienstag geführt.

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