Assimiliation: Nesthäkchen im KZ
Eine Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme erinnert an die jüdische Bestseller-Autorin Else Ury. Sie fühlte sich als Deutsche, verehrte anfangs sogar Hitler. Auch als sie wusste, was auf sie zukam, weigerte sie sich, Deutschland zu verlassen.
HAMBURG taz | Am Anfang war ein Haus. Genauer: Das Foto eines Hauses irgendwo im schlesischen Riesengebirge, das heute zu Polen gehört. Neben einer Jugendstil-Apotheke lag die schöne Jahrhundertwende-Villa, die Michael Ebeling aus Hamburg-Bergedorf 1998 fotografierte. Er war auf einer Gedenkstättenreise nach Auschwitz, wo er dann den Koffer der "Nesthäkchen"-Autorin Else Ury sah. Dass es eine Verbindung zur schlesischen Villa gab, wusste Ebeling da noch nicht.
Jahre später hat er ein Foto der Villa in einem Buch wiedererkannt. Es war Marianne Brentzels "Nesthäkchen kommt ins KZ" und beleuchtete die Vita Else Urys, von der kaum jemand wusste, dass sie als Jüdin von den Nazis ermordet wurde.
Noch weniger bekannt war die Existenz des Hauses, das Ury einst von ihren Tantiemen als Feriendomizil gekauft hatte. "Haus Nesthäkchen" hatte sie es genannt. Nach dem Krieg stand das auf Polnisch am Giebel: "Dom Nesthäkchen" - mehr Gedenken gab es nicht. "Das kann nicht sein", dachte Ebeling, von Beruf Maler und Innenausstatter. Er ging den unbürokratischen Weg und fragte die Besitzer um Erlaubnis, eine Gedenktafel anzubringen. Seit 2004 steht dort, dass die von den Nazis getötete Jugendbuchautorin Else Ury in diesem Haus ihre Ferien verbrachte.
Doch Ebeling, der regelmäßig durch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme führt, war damit noch nicht zufrieden. Irgendwie habe ihn das Thema nicht losgelassen, sagt er. Ebeling, der nie passionierter Leser gewesen war, begann Erst-, Zweit- und Drittausgaben von Urys "Nesthäkchen", "Huschelchen", "Goldblondchen" und weiteren ihrer insgesamt 39 Titel zu sammeln. "Eigentlich keine Lektüre für einen Mann", sagt der 55-Jährige, und er habe auch nur wenige der Bücher gelesen. "Wenn man ein ,Nesthäkchen'-Buch gelesen hat, kennt man alle: Es gibt dort eine heile Familie mit einem blonden, blauäugigen, manchmal aufmüpfigen Mädchen, in der ansonsten alles ordentlich zugeht."
Aber die Inhalte der Bücher waren ja auch nicht entscheidend. Ihn habe Urys Schicksal interessiert, sagt Ebeling. Sogar mit ihrem in London lebendem Neffen habe er Kontakt aufgenommen. Er überließ Ebeling einige der Briefe, die Else Ury ihm schrieb.
Die anderen Facetten
Einige von ihnen sowie eine Auswahl der von ihm gesammelten Bücher präsentiert Ebeling derzeit in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Die Königlich privilegierte Vossische Zeitung von 1910 ist da zu sehen, in der Ury Geschichten veröffentlichte. Erstauflagen von "Was das Sonntagskind erlauscht" (1903), "Goldblondchen" (1908) und "Huschelchen" (1914) liegen in den Vitrinen. Alles konservativ und biedermeierlich, denkt man, und völlig zu Recht von der Literaturwissenschaft ignoriert.
Aber so einfach sei es nicht, findet Ury-Biografin Marianne Brentzel: "Ury hatte auch andere Facetten." Gleich Urys erstes Buch, "Studierte Mädel", sei recht progressiv gewesen: 1906 - zwei Jahre vor der Aufhebung des Immatrikulationsverbots für Frauen - erschienen, beschreibt es zwei angehende Medizin-Studentinnen. Zwei von "Nesthäkchens" Freundinnen wurden Fotografin und Lehrerin. Und in "Professors Zwillinge" hat Ury die reformpädagogische Berliner Waldschule beschrieben.
Goldblonde Mädchen
Facetten, die auch Brentzel erst spät bemerkte und von denen die Einbände der in Neuengamme gezeigten Bücher nichts offenbaren. Bis heute beschränken sich die Verlage auf das Abbilden goldblonder, unpolitisch-selig dreinblickender Mädchen und Frauen.
Doch genau diese Brüche waren es, die Michael Ebeling und Marianne Brentzel für Urys Geschichte einnahmen. Da wäre etwa die Tatsache, dass Ury in ihren Büchern stets Ehe und Mutterschaft preist, selbst aber unverheiratet blieb und ihr eigenes Geld verdiente. Ein Zeichen von Emanzipation? "Ich vermute, dass sie vorhatte zu heiraten", sagt Brentzel. "Es scheiterte wohl an unglückliche Verstrickungen." Ury habe keinen Beruf erlernt und lebenslang im Elternhaus gewohnt - das wiederum ein für bürgerlich-behütete Frauen jener Zeit typisches Muster.
Dass sie Jüdin war, scheint für Else Ury keine große Rolle gespielt zu haben. Eine jüdische Familie kommt nur in einer frühen Geschichte vor. Ury wuchs in einem assimilierten Elternhaus auf, sie fand es nicht wichtig, welche Religion man ausübte. Und ihre Bücher spielen fast alle im christlichen Milieu.
Geholfen hat ihr weder das noch die Tatsache, dass sie rasend gelesen wurde und insgesamt sieben Millionen Bücher verkaufte. 1935 schlossen die Nazis sie aus der Reichsschrifttumskammer aus - de facto ein Publikationsverbot.
Seit 1937 durfte sie als Jüdin keinen Lebensmittelladen mehr betreten. "Ich soll meine Hausmeisterfrau schicken oder telefonieren, dann bekomme ich alles", schrieb sie im Juni 1939 aus Schlesien an ihren Neffen. Und dass sie eine Hausangestellte wegen "Unverschämtheiten" entlassen habe. Ob es antisemitische Äußerungen waren, schreibt sie in den in Neuengamme präsentierten Briefen nicht. Ihr Neffe vermutete es später.
Jedenfalls muss Ury gesehen haben, was sich anbahnte, und man fragt sich, warum sie nicht emigrierte. Das hatten ihre Schwester und ihr Neffe auch getan; selbst ihr Bankberater riet ihr dazu. Ihre Antwort soll gelautet haben: "Wenn meine Glaubensgenossen bleiben, dann habe ich so viel Mut, Charakter und die feste Entschlossenheit, ihr Los zu teilen."
Fest steht jedenfalls, dass Ury nach einer London-Reise 1938 zurück nach Deutschland fuhr, um ihre Mutter zu pflegen. Und sie wusste von den 1941 beginnenden Deportationen: Ihre Kusine beging deshalb Suizid. Und ihre Schwester wurde kurz vor Else Ury deportiert.
Ury verlor nie ein Wort darüber - auch nicht darüber, wie es um ihre Hitler-Begeisterung stand, die sie noch in ihrem letzten Roman, "Jugend voraus", offenbarte. Er wurde, wie das kriegsverherrlichende "Nesthäkchen im Weltkrieg", nach 1945 nie wieder ediert.
Wie sie diese Ansichten mit ihrem eigenen Schicksal zusammenbrachte, ist nicht geklärt. Doch Else Ury muss bis zum Schluss optimistisch gewesen sein. "Überlebende, die Ury in der Deportations-Sammelstelle trafen, haben mir erzählt, dass sie die anderen getröstet habe", sagt Brentzel. Am 13. 1. 1943 wurde Else Ury 65-jährig in Auschwitz ermordet.
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