Atteste, Lebensläufe und Zeugnisse im Müll: Datenschutz im Eimer

In einem Papiercontainer finden sich Akten eines Vereins zur Familienhilfe. Kein Einzelfall, sagen Datenschützer.

Wer zum Müll geht, erlebt Überraschungen Bild: Foto: dpa

Es ist nur ein Stapel von 20 Zentimetern Papier, doch er gibt Aufschluss über ganze Existenzen: Arbeitsverträge, Berichte von Sozialarbeitern über mehrere Familien, Zeugnisse, die Inhalte von Bewerbungsmappen. All das lagerte im Papiercontainer eines Mehrfamilienhauses in Tiergarten.

Das Material gehörte ausgerechnet einem Verein, in dem Sozialarbeiter täglich mit besonders sensiblen Daten hantierten. Der "Neusehland e. V.", so steht es in den Briefköpfen, war im Bereich der Jugend- und Familienhilfe tätig und wurde 1999 gegründet. Die gefundenen Dokumente, die der taz vorliegen, stammen aus den Jahren 2000 bis 2002. Mittlerweile ist der Verein nicht mehr aufzufinden, laut dem Registerportal der Bundesländer wurde er am 5. Oktober 2006 aufgelöst.

In detaillierten Berichten machen die Familienhelfer Angaben zu physischen und psychischen Erkrankungen, zu Problemen wie Missbrauch und Verwahrlosung sowie zum Betreuungsbedarf. "A. hat ein Agressionspotiential" (Abkürzung von der Redaktion) oder "hyperaktiv, geht auf Strich", heißt es dort, immer in Verbindung mit dem Namen, ein Blatt weiter steht die Anschrift der Familie. Darüber hinaus finden sich Lebensläufe und Zeugnisse von Bewerbern, ein ärztlicher Befund sowie Korrespondenz. Die Papiere sind nach Familiennamen sortiert und teilweise in Plastikhüllen. Es scheint, dass die Inhalte ganzer Aktenordner in den Papiercontainer geleert wurden.

Der Fund ist kein Einzelfall. Etwa alle sechs Wochen, schätzt der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix, werde seiner Behörde ein Dokumentenfund gemeldet (siehe Interview). "Ich gehe davon aus, dass wir nur von einem Teil der Fälle überhaupt erfahren."

Dabei unterliegen soziale Träger genau wie Wirtschaftsunternehmen dem Datenschutz. "Als Einrichtungen der Wohlfahrtspflege haben wir sogar einen besonderen Vertrauensvorschuss", sagt Markus Pleyer, seit fast zehn Jahren Datenschutzbeauftragter des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin. Für die Mitgliedsvereine organisiert er Schulungen, erarbeitet Konzepte, bietet vergünstigte Konditionen für die Aktenvernichtung an. Bei einem Drittel, schätzt Pleyer, gebe es noch Verbesserungsbedarf beim Datenschutz. Ein so extremer Fall, bei dem sensibelste Daten unzerschreddert im Müll landen, sei Pleyer aber noch nicht untergekommen.

Tatsächlich war auch der Neusehland e. V. unter dem Dach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes organisiert. "Unsere Hilfen für den Datenschutz sind ein freiwilliges Angebot", sagt er. Weisungsbefugnis gegenüber den Mitgliedern habe er keine, es gebe auch keine Kontrollen. Laut Pleyer lasse sich aber auf Wunsch eine fachgerechte Lagerung oder Vernichtung der Unterlagen organisieren.

Gelangen personenbezogene Daten an die Öffentlichkeit, wird im Zweifel nicht nur der Datenschutz missachtet. "Gerade staatlich ausgebildete Sozialarbeiter können bei Verletzung des Privatgeheimnisses mit bis zu einem Jahr Gefängnis betraft werden", sagt der Berliner Rechtsanwalt Benjamin Raabe, der Jugendhilfevereine zu ihren Schweigepflichten berät. Für eine strafrechtliche Verfolgung müsse allerdings Absicht oder zumindest billigendes Inkaufnehmen vorliegen. Der aktuelle Fall sei zwar eine "riesige datenschutzrechtliche Schlamperei", aber der Verursacher habe die Unterlagen wohl nicht im Müll platziert, damit sie gefunden werden. Wären die Daten jedoch an die Öffentlichkeit geraten, hätten die betroffenen Familien, Mitarbeiter und Bewerber Schadenersatzansprüche geltend machen können, so Raabe.

Bei dem aufgelösten Familienhilfeverein war niemand zu erreichen. Der Datenschutzbeauftragte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes versprach aber, der Sache nachzugehen.

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