Aufarbeitung der Verbrechen in Gaza: Wer verfolgt die Komplizen?
Europa und die USA sind für Menschenrechtsverletzungen in Gaza mitverantwortlich. Der Krieg ruft Assoziationen zu den Nürnberger Prozessen wach.
W ie lässt sich die Untätigkeit der führenden westlichen Mächte in Bezug auf den Gazastreifen erklären, derselben Mächte, die entweder die internationale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg begründet haben oder später zu ihren Säulen wurden? Die Nürnberger Prozesse bieten eine überraschende Erklärung.
Die Prozesse zu Aufklärung und Bestrafung des Holocaust bildeten den Grundstein der rechtlichen Bewältigung von Verbrechen an der Menschlichkeit, von Völkermord. Seither wurden auch in Ruanda und Bosnien Verbrechen begangen, die Genozid genannt wurden, mit Versuchen von Aufarbeitung und Bestrafung im Anschluss. Was aber immer unbeantwortet blieb, war die Frage, wie mit Komplizenschaft umzugehen sei, mit dem billigenden, auch unterstützenden, oftmals profitierenden Umfeld, ohne das es kein Massenmorden hätte geben können.
ist Professor für moderne Europäische und Jüdische Geschichte an der Lehigh University in Bethlehem, Pennsylvania. Dort hat er den Lehrstuhl für Holocaust-Studien und ethische Werte inne.
Beim Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 wurde ein Onkel von ihm getötet und dessen Tochter, Lebovics Cousine, von der Hamas entführt. In seinem eigenen privaten Umfeld in Israel war er entsetzt über die (komplizenhaften) Antworten von Angehörigen und Freunden auf seine Frage, ob Angriffe auf Zivilisten in Gaza zu etwas anderem führen können als zu sinnlosem Blutvergießen.
Das Geschehen in Gaza soll hier nicht mit dem Holocaust gleichgesetzt werden, das verbietet sich aufgrund der unterschiedlichen Dimensionen, aber auch deshalb, weil die übergroße Aggression Israels in Gaza seit dem 7. Oktober 2023 die Folge des abscheulichen Massakers der Hamas ist. Doch liefern die Nürnberger Prozesse einen Ansatz, zu erkennen, was sich jetzt bereits als Schwachstelle einer notwendigen völkerrechtlichen Aufarbeitung der israelischen Kriegsführung abzeichnet.
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Die Prozesse, insbesondere die zweite Verhandlungsreihe, die als „Nürnberger Nachfolgeprozesse“ bekannt ist, weisen auf ein Phänomen hin, das weder Politiker noch Richter in den vergangenen 80 Jahren anerkennen wollten: Die direkten Täter sind eine kleine Minderheit in ihrer Gesellschaft. Sie können ohne weitreichende Komplizenschaft weder innenpolitisch noch international erfolgreich sein. Um das Töten fortzusetzen, benötigen sie Zeit und viel Unterstützung.
In der zweiten Phase der Nürnberger Prozesse bereiteten die Amerikaner unter der Leitung des Militärjuristen und Historikers Telford Taylor, der bereits bei den ersten Nürnberger Prozessen bei der Anklage assistiert hatte, zwölf Prozesse vor und klagten 180 Menschen aus wichtigen Bereichen des NS-Staates an: Industrieführer, Militärkommandanten, hochrangige Verwaltungsbeamte, Ärzte, Leiter der Einsatzgruppen und deren Stellvertreter. Darunter Personen, die von den Nazis finanziert wurden, die mit Munition, Zwangsarbeitern oder Häftlingen aus Konzentrationslagern für Experimente versorgt wurden, oder die einfach „befehlsgehorsam“ den Abzug drückten.
Ein Beweggrund für diese Anstrengungen der Amerikaner lag darin, dass sie selbst Komplizen waren. Jahrelang hatten sie tatenlos zugesehen, wie Rassifizierung, Deportation und systematische Ermordung unter den Nazis betrieben wurden – ohne aktiv einzugreifen. Selbst nach ihrem Kriegseintritt 1941 unternahmen sie keine gezielten Versuche, die Vernichtungsmaschinerie zu stören.
80 Jahre nach Kriegsende schreibt die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, die italienische Rechtswissenschaftlerin Francesca Albanese, einen erschütternden Bericht über die Mitschuld internationaler Firmen an den Menschenrechtsverletzungen im Westjordanland und im Gazastreifen: „Von der Wirtschaft der Besatzung zur Wirtschaft des Völkermords“.
Darin thematisiert sie „die Unternehmensmaschinerie, die das israelische Siedlungsprojekt aufrecht erhält“. Albanese führt aus, dass die durch den Bericht aufgedeckte Komplizenschaft nur die „Spitze des Eisbergs“ sei. In einem Appell an die internationale Rechtsgemeinschaft verweist sie auf „wichtige Präzedenzfälle“ und schlägt den Bogen zu den Nachkriegsprozessen gegen deutsche Industrielle, die aus dem Holocaust Profite schlagen konnten.
Freisprüche bei den Nürnberger Nachfolgeverfahren
Zu Taylors großer Enttäuschung wurden damals die meisten Angeklagten in den Nürnberger Nachfolgerechtsverfahren freigesprochen, bald darauf begnadigt oder ihre Strafen umgewandelt. Der Prozess gegen die Einsatzgruppen, in dem die Männer standen, die direkt für den Mord an Millionen Menschen verantwortlich waren, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Die meisten der ursprünglich 24 Angeklagten, darunter sogar ein zum Tode Verurteilter, wurden vorzeitig aus der Haft entlassen.
Der letzte verurteilte Angeklagte dieses Prozesses kam 1958 auf freien Fuß. Auch die Prozesse gegen Manager der I.G. Farben, die auf Zwangsarbeit angewiesen waren und ohne die die Kriegsmaschinerie der Nazis nicht hätte funktionieren können, endeten entweder mit Freisprüchen oder mit Strafmilderungen, sodass nahezu alle Verurteilten zwischen 1949 und 1952 freigelassen wurden. Die kombinierte Wirkung der beiden Amnestiegesetze, die 1949 und 1952 im neuen Bundestag verabschiedet wurden, und der Verjährung der Strafverfolgung führte dazu, dass bis 1958 fast alle wegen Naziverbrechen Verurteilten begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen wurden.
Während der erste Teil der Nürnberger Prozesse als Schauplatz demokratischer Justiz in Erinnerung geblieben ist, hinterließen die Folgeprozesse ein bitteres Erbe des Scheiterns, in dem Amerikaner und von Schuldgefühlen geplagte Deutsche zusammenarbeiteten, um eine große Zahl von Kriegsverbrechern freizusprechen. Die Besatzungsmächte, die kurz zuvor noch versucht hatten, Deutschland zu demokratisieren, machten sich nun mitschuldig, indem sie Kriegsverbrechen ignorierten, um die Verwaltungskosten zu senken und sich einem neuen gemeinsamen Feind auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs in einem sich verschärfenden Kalten Krieg zu stellen.
80 Jahre sind seit den Nürnberger Prozessen vergangen. Die Zeit reichte nicht, um die historische und politische Tragweite der Komplizenschaft beim Völkermord zu klären. Obschon sie in Tribunalen, von Wahrheitskommissionen und in Sonderberichten häufig erwähnt wird, ist sie weder im Völkerrecht kodifiziert, noch führt sie zu Anklagen gegen lokale Akteure. Internationale Rechtsexperten wie Helmut Philipp Aust, Kevin Jon Heller oder Miles Jackson haben in ihren detaillierten rechtlichen Analysen das Versagen der Vergangenheit eingeräumt und die Nichtverfolgung der Komplizen mit der Missachtung von Kriegsverbrechen und Apartheid in Verbindung gebracht.
Albanese durfte zuerst nicht in Deutschland sprechen
Doch zeigt sich das Unvermögen, Komplizenschaft rechtlich und politisch zu erfassen, auch aktuell schon in einem Diskussionsklima, das bereits die These nicht zulassen will, dass in Gaza mutmaßlich ein Völkermord stattfindet – beziehungsweise stattgefunden hat –, der von westlichen Staaten unterstützt wird.
Es ist empörend, dass der UN-Sonderberichterstatterin Albanese wie auch dem israelisch-britischen Professor Eyal Weizman untersagt wurde, an der Freien Universität in Berlin öffentlich bei einer Veranstaltung zu sprechen. Begründung für die überraschende Absage war die Position der beiden, dass Komplizenschaft am Völkermord dort beginnt, wo Besatzung und Apartheid ignoriert werden. Später hatte Albanese an anderen Orten sprechen dürfen.
Nach dem Massaker vom 7. Oktober änderte sich der öffentliche Diskurs in Deutschland massiv. Die Linke verfiel anfangs in tiefes Schweigen und reagierte kaum noch, als muslimische und jüdische Demonstranten in den Straßen Berlins angegriffen wurden.
In den USA war die Lage nicht viel besser: Studenten, die gegen das brutale Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen protestierten, wurden vom damaligen Präsidenten Joe Biden scharf kritisiert und von ihren eigenen Universitäten unterdrückt. Die Biden-Regierung erstellte eine Liste von 60 Universitäten, die einer „antisemitischen Schulung“ bedürften, und demokratische Anwälte antworteten auf die Klage der NGO „Defense for Children International-Palestine“ mit der Erklärung, dass die Demokraten unerschütterlich hinter Israel stünden.
Zu dieser Zeit propagierten Mitglieder der israelischen Regierungskoalition offen Vertreibung und Tod der Palästinenser. Biden wies den Vorwurf, ein Komplize des Völkermords zu sein, ab und rechtfertigte stattdessen wiederholt die US-Außenpolitik. Zwar verurteilte er im Verlauf des Krieges immer deutlicher das Vorgehen des israelischen Militärs, ließ aber eine Fortsetzung der Waffenlieferungen an Israel, ungeachtet wiederholter Drohungen, nahezu ungebremst zu.
In Deutschland hat sich die langjährige Weigerung, den Staat Israel im Einklang mit dem Völkerrecht zu behandeln, so fest in der politischen Mainstream-Kultur verankert, dass der von Israel über lange Monate vorangetriebene Völkermord im Gazastreifen heute noch immer von manchen geleugnet wird. Je deutlicher sich die wahrheitsgemäße Darstellung der Ereignisse durchsetzt, desto härter – so scheint es – werden kritische Stimmen und Demonstrationen nicht nur in Deutschland, sondern europaweit unterdrückt.
Deutschland muss über seine Rolle nachdenken
In seinem kürzlich erschienenen Buch One Day Everyone Will Have Always Been Against This beleuchtet der kanadisch-ägyptische Schriftsteller, Journalist und Kriegsberichterstatter Omar El Akkad einige der Hintergründe, die die Komplizenschaft des Westens bei den Kriegsverbrechen im Gazastreifen sowie das Unvermögen von Politikern und Intellektuellen erklären, die Realität des Krieges zu erkennen. Er zeigt sich erstaunt darüber, dass in den USA Demokraten verwirrt zu sein scheinen, weil so viele Menschen einen mutmaßlichen Völkermord einfach nicht akzeptieren können.
El Akkad bringt diese Weigerung, die moralische Haltung und den gesunden Menschenverstand von großen Teilen der Bevölkerung als relevant für die hohe Politik anzuerkennen, in Zusammenhang mit dem Aufstieg der extremen Rechten. Während Politiker der Mitte bereit sind, ihre eigene vermeintlich radikale linke Basis zugunsten eines – man könnte sagen – nichtexistierenden Status quo zu opfern, verlieren sie eine Schlacht nach der anderen gegen die radikale Rechte, deren Erstarken die Grundlagen der Demokratie bedroht.
Die deutsche Regierung wie auch die deutsche Öffentlichkeit sollten angesichts der begangenen Kriegsverbrechen im Gazastreifen dringend über ihre historische Rolle in der gegenwärtigen Lage nachdenken.
Übersetzung von Roii Ball
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