Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt: Mit dem Täter reden

Thordis Elva hat mit ihrem Vergewaltiger ein Buch geschrieben. Für viele ist das eine Zumutung. Dabei kann man einiges aus dem Fall lernen.

Porträt einer Frau mit dunkelblonden Haaren

Acht Jahre nach der Tat nimmt Thordis Elva Kontakt zu dem Mann auf, der sie vergewaltigt hat Foto: dpa

Tom Stranger hat Thordis Elva vor 20 Jahren vergewaltigt. Er war 18, sie 16 und trank zum ersten mal Rum, zu viel Rum. Daraufhin schlief der hübsche Austauschstudent aus Australien zwei Stunden mit der vom Alkohol nahezu völlig paralysierten Isländerin. Er war ihr erster Freund und zwei Tage später machte er Schluss. Jetzt hat Elva mit ihrem Vergewaltiger ein Buch geschrieben. „Ich will dir in die Augen sehen“ handelt von ihrem gemeinsamen Weg der Verarbeitung.

Das geht vielen zu weit. So musste die Lesung von Elva und Stranger auf dem Women of the World Festival (WOW) in London abgesagt werden, weil mehrere Tausend Menschen eine Petition dagegen unterschrieben hatten. Ähnliche Proteste gab es in Bristol. Ein solches Buch ist nach wie vor ein Tabubruch. Und das ist tragisch.

Nahezu jeder Artikel über das Buch beginnt mit der Frage: Darf ich meinem Vergewaltiger verzeihen? Die Antwort lautet, dass diese Frage natürlich grenzüberschreitend ist. Trotzdem beantwortet Elva sie wieder und wieder geduldig: „Meine Vergebung ist weder selbstlos noch aufopfernd und ich halte auch nicht die andere Wange hin. Sie dient dazu, das alles ein für alle Mal loszulassen.“ Elva ist weit davon entfernt, ein menschlicher Fußabtreter zu sein. Sie hat einem Ex nach der Trennung schon einmal Scheiße in einer Schuhschachtel geschickt. Und es war ihre Entscheidung, mit dem Täter Kontakt aufzunehmen und ihn mit jener Nacht in Reykjavik zu konfrontieren. Acht Jahre nach der Tat schickt sie ihm eine Mail.

Zu Thordis Überraschung meldet sich Tom umgehend: „Wenn es irgendetwas gibt, das ich tun oder dir anbieten kann – ein Wort von dir genügt.“ Das ist der Anfang einer acht Jahre andauernden Korrespondenz. Doch trotz aller Ehrlichkeit kommt es nicht zu der von ihr ersehnten Vergebung, sodass sie schließlich vorschlägt, sich zu treffen. In der Mitte zwischen Reykjavik und Sydney.

Kritiker*innen wissen, wie sich Opfer zu verhalten haben

Das Ergebnis ist eine anstrengende und intensive Woche in Kapstadt, in der sie es schaffen, über das Opfer-Täter-Schema hinaus zu gehen. Die Verantwortung für die Tat liegt eindeutig bei Stranger, doch sie begegnen sich auf Augenhöhe, wie Elva fordert: „Wenn du in dieser Woche über deine Ängste sprichst oder dich verletzlich zeigst, tue ich das selbe.“

Thordis Elva ist in Island eine bekannte Feministin. 2009 schrieb sie ein preisgekröntes Buch über sexualisierte Gewalt und beriet die Regierung zu Gewaltprävention und Sexualerziehung. Es sollte nicht notwendig sein, das zu erwähnen, ist es aber. Da ihr Gruppen wie die „Women’s Death Brigade“ vorwerfen, eine Vergewaltigungs-Apologetin zu sein, weil sie mit dem Mann, der sie vergewaltigt hat, spricht.

Thordis Elva

Meine Vergebung ist weder selbstlos noch aufopfernd und ich halte auch nicht die andere Wange hin. Sie dient dazu, das alles ein für alle Mal loszulassen

„Das soll natürlich nicht als Rezept verstanden werden“, sagt Elva in jedem Interview sozusagen als Disclaimer. Während in Büchern über den Jakobsweg nie steht, dass sich niemand unter Druck gesetzt fühlen soll, auch pilgern zu gehen. Im Gegensatz zu Elva haben ihre Kritiker*innen jedoch durchaus Rezepte, wie sich ein Vergewaltigungsopfer zu verhalten habe. So wirft die australische Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Josephine Cashman Elva sehr aggressiv vor: „Wer vergewaltigt wird, soll zur Polizei gehen.“

Ein Konzept, dem die Frauenberatungsstelle Düsseldorf kritisch gegenüber steht: „Unsere Aufgabe ist, Betroffene bei dem zu unterstützen, was für sie richtig ist. Das kann, muss aber nicht eine Anzeige sein.“ Tatsächlich hatten sie sogar einmal einen ähnlichen Fall. „Als die Klientin gesagt hat, sie würde sich mit ihrem Täter treffen, fiel mir auch erst einmal die Kinnlade runter.“ Denn die Erfahrung der Beratungsstelle sind eher Täter, die die Verantwortung den Opfern zuschieben. „Deshalb hätte ich ihr das nicht geraten, aber sie war davon überzeugt. Und danach kam sie zu mir rein und war wie verwandelt.“

Stranger wird angegriffen, weil er sich seiner Tat stellt.

Ein weiterer Vorwurf Cashmans lautet: „Das Buch könnte die Schleusen für Vergewaltiger öffnen, ihre Opfer zu kontaktieren.“ Wenn das passieren würde, wäre das in der Tat bedenklich. Niemand darf dazu gezwungen werden, sich mit seinem Täter zu treffen. Umgekehrt ist es jedoch so, dass die Polizei seit 2015 (seit dem 3. Opferrechtsreformgesetz) Opfer bereits bei der Zeugenaussage informieren muss, dass sie die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs haben. Besser bekannt unter dem Namen restorative justice.Das bedeutet, dass es auf Wunsch der Straftatsopfer anstelle eines Prozesses erst einmal eine Mediation geben kann, bei der Opfer und Täter eine für sie angemessene Form der Wiedergutmachung aushandeln.

So sie sich nicht einigen, kommt es ganz regulär zu einer Gerichtsverhandlung, sollten sie aber zu einem für beide Seite befriedigenden Ergebnis kommen, wird das entweder von der Staatsanwaltschaft akzeptiert oder zumindest auf die Strafe angerechnet. Sprich: also das, was Elva und Stranger gemacht haben. Das gilt auch im Fall von Vergewaltigungen. „Bloß informiert nahezu keine Polizeidienststelle die Betroffenen darüber“, erklärt Theresa Bullmann vom TOA Magazin, der Fachzeitschrift für den Täter-Opfer-Ausgleich. Denn dort gibt es noch immer Vorbehalte zu diesem Instrument.

Und nicht nur bei der Polizei. Die Petition in London argumentiert, der Auftritt von Elva und Stranger auf dem WOW Festival würde „sexualisierte Gewalt normalisieren, anstatt sich darauf zu konzentrieren, die Verantwortung zu übernehmen und gegen die Wurzeln von Gewalt vorzugehen“.

Thordis Elva, Tom Stranger: „Ich will dir in die Augen sehen: Eine Frau trifft den Mann, der sie vergewaltigt hat“. Aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert. Möllemann Knauer Verlag, 19,99 Euro.

Mehr Informationen: TOA Kontakt: info@toa-servicebuero.de (0221) 94 86 51 22

„Ständig wird gefordert, Täter sollten Verantwortung übernehmen, aber es führt kein Weg dorthin“, kommentiert Bullmann. Das Absurde ist, dass Stranger angegriffen wird, weil er sich seiner Tat stellt. Wenn er geleugnet hätte, wäre er fein raus. Es gab keine Anzeige. In den Augen der Welt wäre er ein unbescholtener Mann und Elva eine hysterische Ziege. So aber skandieren Demonstrierende vor der Royal Festival Hall, wohin die Veranstaltung schließlich verschoben wird: „Dies ist ein Tatort! Holt den Vergewaltiger raus!“ Als wäre Vergewaltiger ein Beruf.

„Darin äußert sich ein Denkfehler, der für unendlich viel Leid verantwortlich ist. Nämlich dass Menschen mit der Tat, die sie begangen haben, gleichgesetzt werden,“ fährt Bullmann fort. Denn entgegen den Forderungen der Demonstrierenden, dass „ein Vergewaltiger keinen Platz auf einer Bühne haben darf“, sind ihre Geschichten ja genau die Leerstelle, das Unerklärliche. Deshalb ist es so wichtig, Stranger zuzuhören. Und so überraschend.

Vergewaltigung betrifft nicht nur Opfer und Täter

Angefangen damit, dass die Vergewaltigung nicht nur massive Auswirkungen auf ihr Leben hatte, sondern auch auf seines: „Ich hatte das Gefühl, dass ich dadurch die Mitgliedschaft in der menschlichen Rasse verlor.“ Er entwickelte Panikattacken und konnte Beziehungen nicht länger als zwei Monate aufrecht erhalten, bevor er fliehen musste. Bullmann bestätigt: „Niemand sagt dir: Das, was du getan hast, hat fürchterliche Auswirkungen auf das Leben anderer Menschen, aber du kannst dich trotzdem noch selber lieben. Denn nur, wenn wir uns selber lieben, können wir Verantwortung übernehmen und etwas ändern.“

Und erst das führt zu der Vergebung. Denn es ist ja keineswegs so, dass er nur sorry sagen musste, und das war’s. Elva und Stranger ringen viele Jahre und nahezu 300 Seiten darum. So fahren sie nach Robben Island, dem berüchtigten Apartheitsgefängnis vor Kapstadt, in dem Nelson Mandela zwei Jahrzehnte in einer winzigen Einzelzelle saß – und nachdem er freikam, seinen Peinigern verzieh. Doch anstatt es dem Helden der restorative justice gleich tun zu können, streiten sie sich über eine Definition von Feminismus.

Und obwohl ja die Prämisse des Buches ist, dass Elva Stranger verzeiht, ist das, als es schließlich dazu kommt, verblüffend kathartisch. „Solche Geschichten sind so bewegend, weil sich dabei wirklich etwas verändert“, erklärt Bullmann. Für Elva bedeutet das, nicht mehr ständig in Gedanken das Zimmer in ihrem Elternhaus besuchen zu müssen. Mehr noch, greift sie zum ersten Mal in die Geschichte in ihrem Kopf ein und zieht Stranger von ihrem jugendlichen Selbst. Für ihn sind die Veränderungen nicht minder weltbewegend. Er ist zwar immer noch der Mensch, der diese Tat begangen hat, aber nicht mehr nur dieser Mensch. Wenige Wochen nach Kapstadt trifft er seine jetzige Frau Cat.

An dem Buch lässt sich eine Menge lernen: Dass Vergewaltigung nicht nur Opfer und Täter betrifft, sondern auch ihr Umfeld, so ist eine der bewegendsten Szenen die, in der Tom ein Jahr später Thordis Ehemann Vidir besucht. Dass Veränderung möglich ist. Und auch, dass diese – und viele andere – Vergewaltigungen durch bessere Aufklärung, was Konsens bedeutet, hätte verhindert werden können.

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