Aus Berlin abgeschobene Vietnamesen wiedergetroffen: Planlos in Hanoi

Nguyen wollte in Berlin Geld für seine Familie verdienen. Vor zwei Wochen wurde er nach Hanoi abgeschoben - mit 55 Euro in der Tasche und Hepatitis C im Körper.

Demonstration gegen die Abschiebungen am 6.12. in Berlin Bild: dpa

HANOI taz | Das Goethe-Institut in Hanoi ist ein ruhiges, kühles Kleinod im Zentrum der lebendigen 6-Millionen-Stadt. Nguyen sitzt im Innenhof des Jugendstilgebäudes und nippt an einer heißen Schokolade. Es ist der 1. Dezember, später Nachmittag. Für Nguyen ist es Tag zwei nach seiner Abschiebung aus Deutschland. Zusammen mit 45 vietnamesischen Landsleuten wurde er am 29. November mit einer Maschine der Aeroflot aus Berlin ausgeflogen.

Antirassistische Gruppen und die Flüchtlingsräte von Berlin und Brandenburg protestierten vor dem Flughafengebäude mit Transparenten und Trommeln. Nguyen hat davon nichts mitbekommen. "Ich habe gesehen, dass es in Berlin schneit", erinnert sich der große und breite 23-Jährige, der älter wirkt. "Und ich habe im Bus zu den anderen gesagt: ,Seht noch mal aus dem Fenster. Schnee werden wir wahrscheinlich nie wieder sehen in unserem Leben.'" Mitten in der Nacht war er aus dem Bett geholt und zum Flughafen gebracht worden. Mehr als 24 Stunden später landete er in Hanoi.

Dabei galten die Proteste ganz besonders seiner Abschiebung. Nguyen hat sich in Deutschland mit Hepatitis C infiziert. Ausgebrochen ist die Krankheit noch nicht. Wann das passiert, ob in zwei Wochen oder in 20 Jahren, weiß niemand. Dann aber braucht er Medikamente, die es in Vietnam nicht gibt und die Nguyen, würden sie aus dem Ausland importiert, nicht bezahlen könnte. Vietnams Gesundheitssystem ist nicht solidarisch organisiert. Wer krank ist, zahlt. Der Jesuitenpater Ludger Hillebrand, der in Berlin Abschiebehäftlinge betreut, sprach von einem Todesurteil für Nguyen, den Sohn eines einfachen Bauern. Das Berliner Verwaltungsgericht konnte dagegen keine Härte erkennen - weil die Erkrankung noch nicht ausgebrochen ist. Nguyens Antrag auf Abschiebeschutz wurde abgelehnt.

Der junge Mann spricht gut verständliches Deutsch. Das ist selten unter vietnamesischen Asylbewerbern. Die meisten haben in Deutschland unversteuerte Zigaretten verkauft und beherrschen lediglich die wenigen Worte, die für ein Verkaufsgespräch nötig sind. "Der Pater im Abschiebeknast und mein Anwalt haben für mich gekämpft", sagt Nguyen und nippt noch einmal an der Schokolade. Anerkennend hebt er den Daumen, wenn er über die beiden spricht.

Viele Menschen hat er nicht kennen gelernt während seiner fünfjährigen Odyssee durch Europa. Wie fast alle vietnamesischen Asylbewerber hatte er sein Heimatland nicht wegen politischer Verfolgung verlassen, sondern weil er der Armut und Perspektivlosigkeit in seinem Dorf entkommen wollte. Weil er von einem Leben in Saus und Braus träumte und Landsleuten nacheifern wollte, die ihren Verwandten regelmäßig Geld aus Europa schicken. "Ich war jung und meine Familie traute mir das zu", sagt er. Das soll heißen: Sein Vater hatte beschlossen, dass es Nguyens Aufgabe war, im Ausland sein Glück zu versuchen, um Eltern und Geschwister mit Geldsendungen über Wasser zu halten. In traditionell geprägten dörflichen Milieus in Vietnam muss sich ein Sohn dem Familienoberhaupt bedingungslos unterordnen.

Mit solchen Erwartungen gelangen diejenigen Vietnamesen nach Berlin, die hier Zigaretten verkaufen. Mit dem Erlös begleichen sie erst ihre Schlepperschulden, dann unterstützen sie die Angehörigen. Nguyen tat das nicht einmal ungern. Europa reizte den jungen Mann, und schließlich hatte sein Vater 10.000 Dollar geliehen und für seine Reise an eine Schlepperbande bezahlt.

"Die Schlepper haben mich nur betrogen", sagt Nguyen heute. "Es hieß, es geht mit dem Flugzeug nach Moskau und weiter mit dem Auto nach Berlin. Aber von Moskau aus musste unsere Gruppe zu Fuß weiter laufen." Zu Fuß von Moskau nach Berlin? Nguyen bestätigt das Unglaubliche: Über ein Jahr sei er unterwegs gewesen, begleitet von Schleppern, die öfter gewechselt hätten. Er habe gehungert und gefroren, und er habe zusehen müssen, wie eine Landsfrau von mehreren Schleppern vergewaltigt wurde. Einem anderen seien beide Beine abgefroren.

In der Ukraine kam Nguyen für zwei Monate ins Gefängnis, wegen illegaler Einreise. "Meine Essensration bestand aus fünf Scheiben Weißbrot. Manchmal gab es eine, manchmal zwei solche Rationen am Tag." Seine zweite Gefangenschaft war noch schlimmer: In Polen, unweit der deutschen Grenze, hielt ihn die Schlepperbande vier Monate lang in einem Erdbunker gefangen. "Sie erpressten meine Eltern: Entweder sollten die noch mehr Geld für meine Reise nach Berlin schicken oder ich müsste im Erdbunker bleiben und könnte niemals meine Schulden abbezahlen."

Aber Nguyens Eltern sind arm. "Am Ende haben die Schlepper aufgegeben. Bei meinen Eltern war nichts zu holen. Sie hatten nicht einmal mehr ein Haus, mit dem sie für mich bürgen konnten." Das Haus, in dem sie wohnten, sollte in Kürze für eine Straßenverbreiterung abgerissen werden. Der Preis für die Freiheit: Nguyen bekam Geldsummen diktiert, die er in Berlin an die Bande zahlen sollte.

Der junge Mann unterbricht seinen Redefluss. Das Glas mit der nicht mehr heißen Schokolade steht noch immer halb gefüllt vor ihm. Vorsichtig fragt er, ob er einen Kaffee bestellen dürfe. Die Schokolade, bekennt er, mag er eigentlich nicht. Die habe er aus Höflichkeit bestellt, weil die Journalistin auch eine trank. Er winkt den Kellner heran und gibt seine Bestellung auf. Nguyen wirkt unsicher: Es liegt Jahre zurück, dass er etwas in seiner Muttersprache bestellt hat.

"Den Kaffee brauche ich, weil ich immer noch müde bin", sagt er. Zwei Nächte hintereinander habe er kaum geschlafen. Die erste Nacht wurde er um 4 Uhr zur Abschiebung geweckt. Die folgende verbrachte er im Flugzeug. Dann folgte eine stundenlange Prozedur bei der Flughafenpolizei in Hanoi. "Als ich das hinter mir hatte, kam ich bei einem Cousin unter. Bis jetzt habe ich fast nur geschlafen."

Danach ist er direkt zu diesem Gespräch gekommen. Den Kontakt zur taz hatte er vom Pater im Grünauer Abschiebeknast erhalten. Insgesamt haben sich nur drei der 46 Abgeschobenen gemeldet, aber Nguyen hat ein Motiv: Er verspricht sich durch die Veröffentlichung Hilfe aus Deutschland. "Eine andere Chance habe ich nicht, an Medikamente zu kommen", sagt er. Der Berliner Verein "Medizinische Hilfe für Vietnam" hat ihm bereits zugesagt, im Falle des Ausbruchs der Krankheit Medikamente zu schicken. Wie lange der kleine Verein das tun kann, hängt aber vom Spendenaufkommen ab.

Wie zahlt man in Berlin eine fünfstellige Geldsumme an eine Schlepperbande, wenn man nicht arbeiten darf und als Asylbewerber noch weniger staatliche Zuwendungen bekommt als Hartz IV? Nguyen entschied sich fürs Klauen. Etwas, was dem höflichen und disziplinierten Mann eigentlich überhaupt nicht liegt. "Was sollte ich machen? Ich stand unter Druck." Damit kam er schneller zu Geld als durch den Zigarettenverkauf. Nguyen war zu Hause nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten, er geriet erst durch die Umstände der Flucht in kriminelle Strukturen. Als sich die Strafen für Eigentumsdelikte summierten, musste er für zwei Jahre ins Gefängnis.

Dort hat er sich nach eigenen Angaben mit Hepatitis C angesteckt. Laut Jesuitenpater Hillebrand spricht auch die Krankenakte des Mannes für diese Version: Bei der Einlieferungsuntersuchung in die JVA war er noch gesund, ein Jahr später dann wurde der Hepatitis-C-Erreger diagnostiziert. Das Virus ist übertragbar durch Blutkontakt, etwa durch gemeinsam benutzte Spritzen oder beim Sex. Auch in Krankenhäusern kommt es zuweilen zu Ansteckungen von Patienten auf das Personal oder umgekehrt.

Es wird Abend in Hanoi. Hier dämmert es nicht. So dicht am Äquator wird einfach der Lichtschalter umgelegt. Den Kaffee hat der Mann rasch geleert, die Schokolade steht immer noch vor ihm. Wovon lebt er jetzt?

55 Euro hat ihm in Berlin die Bundespolizei ausgezahlt - wie jedem vietnamesischen Abzuschiebenden. Das Geld ist für die Weiterreise von Hanoi in den Heimatort gedacht. Doch Nguyen hat keine Heimat mehr. Haus und Reisfeld der Familie in einem Dorf rund 100 Kilometer südlich von Hanoi mussten der Straße weichen. Er wohnt bei dem Cousin, kostenlos. Der Verwandte hat ihn auch vom Flughafen abgeholt. In der Familie hilft man sich. Vier Euro hat eine Prepaid-SIM-Card gekostet. Die steckt jetzt in seinem deutschen Handy. Vier Euro kostete auch die Fahrt mit dem Motorradtaxi ins Goethe-Institut.

"Ich habe keine Ahnung, was ich arbeiten kann", sagt Nguyen. Er ist fünf Jahre zur Schule gegangen und hat danach als Bauer, Kellner, Bauhelfer und Taxifahrer gearbeitet. Nach dem Abenteuer Europa funktioniert davon nur noch der Bauhelfer. Der Familie fehlt Land, das er bestellen könnte, Kellnern geht nicht, weil er den Hepatitiserreger in sich trägt. Taxi fahren? "Ich kenne mich hier nicht mehr aus."

Um 18 Uhr schließt die Bibliothek des Goethe-Instituts. Junge vietnamesische Intellektuelle strömen jetzt ins Restaurant. Die Bibliothek ist bei ihnen beliebt, seit Hanoi Facebook gesperrt hat: Bei Goethe ist das Internet unzensiert. Für Nguyen ist das uninteressant. Durch Flucht, Illegalität und Gefängnis hat er den Modernisierungsschub verpasst, den Vietnam erlebt hat. Nguyen kennt das Internet kaum, er hat nicht mal ein E-Mail-Adresse. In Hanoi ist das Netz aber inzwischen ein wichtiges Medium - bei der Jobsuche wie bei der Pflege von sozialen Kontakten.

Sechs Tage später. Nguyen meldet sich noch einmal bei der Autorin. Seine Prepaidkarte ist abgelaufen, er hat eine neue Nummer. Die solle die taz doch bitte an den Berliner Hilfsverein weiterleiten, damit er im Ernstfall zu seinen Medikamenten kommt. Nguyen klingt selbstbewusst. Er ist davon überzeugt, einen Anspruch auf Medikamente aus Deutschland zu haben. Schließlich hat er sich die lebensbedrohliche Krankheit in einem Berliner Gefängnis geholt, quasi unter staatlicher Aufsicht. "Richten Sie dem Pater, meinem Anwalt und der Frau von der Hilfsorganisation aus, dass ich ihnen jederzeit helfe, wenn sie in Vietnam sind", sagt er.

Arbeit hat Nguyen noch keine. Und auch keine Idee, wo er eine suchen könnte. Erst einmal ist er zu seinen Eltern aufs Land gefahren und hat das Wiedersehen gefeiert. Den Verwandten gilt er jedoch als Versager, weil er aus dem reichen Europa arm zurückgekommen ist. Anstatt seine Eltern ernähren zu können, müssen die ihn wieder durchfüttern. Die 55 Euro aus Deutschland sind verbraucht.

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