Aus Le Monde diplomatique: Die Vermesser des Lebens

Von Risikomanagement und Lebensverlängerung: Ab 1900 begannen Versicherungen in den USA mit dem Sammeln von Kundendaten.

Altes Schwarz-weiß-Foto: Menschen gehen an einer Hochbahn entlang

New York, 1903: einem von Daten getriebenen Zeitalter entgegen Foto: imago/Zuma Press

Ein Foto aus dem Jahr 1903, veröffentlicht von dem Lebensversicherer New York Life: Frauen in gestärkten weißen Blusen, die Karteikarten in riesige Stahlschränke einsortieren, und Männer in schwarzen Anzügen, die an ihren Schreibtischen stapelweise Unterlagen durchsehen. Das Bild bringt in Erinnerung, dass Versicherer Unmengen persönlicher Daten verwalten, die genauso umfangreich und wertvoll sind wie ihre Geldreserven. Diese Tatsache ist unlängst wieder ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen, als bei einem Hackerangriff auf die zweitgrößte Krankenversicherung der USA (Anthem Inc.) Daten von mehr als 10 Millionen Versicherten gestohlen wurden.

Die seinerzeit von New York Life gesammelten Daten stammten aus medizinischen Untersuchungen, aus Informationen zur privaten und finanziellen Situation, die von Wirtschaftsauskunfteien oder von Detektivbüros erworben wurden, aus Angaben der Versicherten selbst oder Recherchen der Versicherungsmakler. Sie enthielten darüber hinaus Hinweise vom Medical Information Bureau (MIB), dem Dachverband der größten US-Lebensversicherer, die sich gegenseitig mit Informationen über jegliche „Beeinträchtigung“ von Antragstellern versorgten.

Dazu gehörten nicht nur tatsächlich nachgewiesene Erkrankungen, sondern auch Hinweise auf potenzielle Gesundheitsprobleme, wie etwa Tuberkulose in der Familie, Übergewicht oder eine der Gesundheit abträgliche Wohngegend. All diese Informationen wurden in Karteikästen kreuz und quer durchs Land geschickt.

Leitende Betriebsärzte durften Einsicht in die von den Versicherungsangestellten streng gehüteten Akten nehmen. Manche Versicherer schlossen die MIB-Karteikarten sogar in Tresorschränke ein. Den leitenden Betriebsärzten war es strengstens untersagt, mit ihren Untergebenen über diese Akten zu sprechen, andernfalls drohten Sanktionen seitens des MIB – aber nicht aus Gründen des Datenschutzes, sondern weil die Versicherungsunternehmen nicht wollten, dass ihr Informationsaustausch publik wurde. Wenn die Öffentlichkeit von den kursierenden Karteikarten und deren Einfluss erfahren hätte, wäre es womöglich zu ernsthaften Problemen gekommen.

Makabre Arithmetik

Als Ende des 19. Jahrhunderts Lebensversicherungen zu einem Massenprodukt avancierten, wurde die Überprüfung potenzieller Versicherungsnehmer mehr und mehr automatisiert. Die New York Life spielte dabei eine Vorreiterrolle, nicht nur wegen ihrer hervorragend gepflegten Karteikarten – seit Einführung der Buchhaltung und bis zum Beginn des Computerzeitalters die wichtigste Informationsquelle für Unternehmen –, sondern weil sie sich besonders kreative Methoden bei der Auswahl und Einstufung der Versicherten hatte einfallen lassen.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique, der großen Monatszeitung für internationale Politik. LMd gibt es jeden Monat neu gedruckt und digital sowie zum Anhören. Das komplette Inhaltsverzeichnis der neuesten Ausgabe kann man hier nachlesen: www.monde-diplomatique.de/zeitung.

Die Mediziner und Statistiker der Versicherung hatten gemeinsam eine „numerische Methode“ erfunden, die aus einzelnen Individuen „kalkulierbare Risiken“ machte. Das Ergebnis war eine makabre Arithmetik, die dank Versicherungsstatistik und Sterblichkeitsraten den jeweiligen Beeinträchtigungen und Risikofaktoren auf den MIB-Kärtchen Zahlenwerte zuwies. Diese wurden zu einem Gesamtwert aufaddiert, der das Schicksal der somit quantifizierten Person prognostizieren sollte und festlegte, ob sie einen Standardvertrag oder günstigere Prämien oder schlechtere Leistungen angeboten bekam – oder gar keine Aussichten hatte, in die Gemeinschaft der über 10 Millionen US-Amerikaner, die eine Lebensversicherung besaßen, aufgenommen zu werden.

Lebensversicherungen waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert für viele US-Bürger die einzige Form, Geld zu sparen und zu investieren. Darüber hinaus verdienten immer mehr Menschen und Familien ihren Lebensunterhalt mit Löhnen oder Gehältern oder den Einnahmen aus einer eigenen Firma, und immer weniger lebten von dem, was sie auf ihrem Land produzierten, oder von ihrem ererbten Reichtum.

Rassismus bei Policen

Mit der Lebensversicherung tat sich eine neue Möglichkeit auf, Vermögen zu sichern und an die nächste Generation weiterzugeben. Davon profitierten wiederum die Versicherer: Wenn beispielsweise ein Bauer eine Hypothek aufnehmen wollte, um Land zu kaufen, musste er vorher oft eine Lebensversicherung abgeschlossen haben. Das Entscheidende für viele Arbeiterfamilien war jedoch, dass die Lebensversicherung ihre soziale Lage und Würde schützte und ihnen die Schmach eines Armenbegräbnisses ersparte, falls – was damals oft vorkam – eines ihrer Kinder früh verstarb.

Die einfachen Leute hatten nicht nur die Bedeutung von Lebensversicherungen erkannt, sie solidarisierten sich auch gegen offensichtliche Ungerechtigkeiten. Als sich in den 1880er Jahren zum Beispiel herumsprach, dass manche Versicherungskonzerne Afroamerikaner diskriminierten. Bei geringeren Ansprüchen sollten sie die gleichen Beiträge wie Weiße zahlen.

Daraufhin organisierte sich der Widerstand, bis schließlich in den nördlichen Bundesstaaten Antidiskriminierungsgesetze beschlossen wurden. Diese juristische Auseinandersetzung war ein Meilenstein in der Geschichte des Kampfs gegen Rassismus und für Bürgerrechte in den Vereinigten Staaten. Und sie erinnerte die Lebensversicherer außerdem an die problematischen Seiten ihres Geschäfts.

Dekadente Verschwendung

Zu der Krise, die die Versicherungsfirmen ereilte, kam es allerdings nicht wegen der gehorteten Daten, sondern weil die Lebensversicherer in den Augen der Allgemeinheit zu reich geworden waren, so reich, dass es ihnen selbst, dem Kapitalismus und der Demokratie in den Vereinigten Staaten nicht mehr guttun konnte.

Es begann damit, dass James Hazen Hyde, dessen Vater Henry Baldwin Hyde 1859 die Equitable Life Assurance Society of the United States gegründet und bis zu seinem Tod 1899 zur weltweit größten Lebensversicherung ausgebaut hatte, 1905 einen seiner glamourösen Kostümbälle veranstaltete. Zur Unterhaltung der im Louis-seize-Stil verkleideten Damen und Herren trat eine berühmte französische Schauspielerin auf.

Für einen einzigen Abend verwandelte sich das Sherry’s Hotel in einen französischen Garten, die Böden bedeckte echter Rasen, gesäumt von Statuen und Orangenbäumchen. Selbst nach den Standards im Gilded Age, wie die Blütezeit der US-Wirtschaft nach den 1870er Jahren genannt wird, war es ein sehr verschwenderisches Fest.

Wenig später nutzte eine Gruppe von Equitable-Geschäftsführern den Skandalball als Vorwand, um dem jungen Hyde die Kontrolle über das Unternehmen und sein Vermögen zu entziehen. Eine weitere Folge der Affäre war, dass der Bundesstaat New York das Geschäftsgebaren von Equitable und den anderen „Big Five”, darunter auch New York Life, einer langwierigen und demütigenden Untersuchung unterzog.

Ambivalente Wirkung staatlicher Eingriffe

Die Zeitungen enthüllten, mit welchen Tricksereien die Finanzausschüsse die Rücklagen der Versicherer einsetzten, um sich Einfluss in den Banken und Investmentgesellschaften zu verschaffen. Sie berichteten von Missmanagement, politischer Einflussnahme, überzogenen Managergehältern – und förderten komplizierte Versicherungsprodukte zu Tage, deren einziger Zweck offenbar darin bestand, die Versicherer zu bereichern und alle anderen zu verwirren.

Die Vernehmungen der New Yorker Behörden brachten immerhin Bewegung in die Branche, und die Versicherer gewöhnten sich einen anderen Umgang mit ihren Kunden und deren Daten an. Freilich waren die staatlichen Eingriffe oft auch kontraproduktiv. So verkauften viele große Lebensversicherer seit Einführung der frühen Antidiskriminierungsgesetze einfach gar keine Versicherungen mehr an Afroamerikaner und trugen damit zur Rassentrennung im ganzen Land bei, zu einer Zeit, als in den Südstaaten die sogenannten Jim-Crow-Gesetze erlassen wurden, die zum Teil bis Mitte der 1960er Jahre in Kraft blieben.

Angesichts der schlechten Presse gaben sich die Versicherer Mühe, ihr Image aufzupolieren. Die in New York ansässige Metropolitan Life Insurance Company, heute unter dem Namen MetLife der größte Anbieter von Lebensversicherungen in den Vereinigten Staaten, änderte ihre Marketingstrategie. Man wolle nicht mehr nur Risiken bewerten und Versicherungspolicen verkaufen, hieß es, sondern als Avantgarde eines „neuen unternehmerischen Sozialismus“ diverse Experimente starten mit dem Ziel, Gesundheit und Wohlergehen der Angestellten und Versicherten zu verbessern.

Ein Pflegedienst kümmerte sich fortan um erkrankte Versicherte aus der Arbeiterklasse, die besser betuchten Versicherten bekamen dank der Partnerschaft mit dem Life Extension Institute (etwa: Institut für ein längeres Leben) einen jährlichen Gesundheitschecks angeboten, und die Versicherungsvertreter verteilten neue Prospekte mit lauter guten Tipps für einen gesunden Lebensstil.

Täglich aktualisierte Risikobewertung

Viele dieser Reformen gingen auf den damals populären neoklassischen US-Ökonom Irving Fisher (1869–1947) zurück. Für ihn war der Tod kein durch Zufall oder Schicksal gegebenes Faktum, sondern etwas, das wir beeinflussen und kontrollieren können. Diese „moderne Auffassung des Todes“ veranlasste die Lebensversicherer, ihre Prognosemodelle zu überarbeiten: An die Stelle der Sterberisiken traten nun Instrumente der Lebensverlängerung.

Mit der Zeit lösten sich die algorithmische Risikoberechnung, medizinische Untersuchung und andere Techniken der Versicherungsgesellschaften mehr und mehr aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus und breiteten sich auch in anderen Geschäftsfeldern aus. Der Normalbürger wurde zum Objekt fast täglich aktualisierter Risikobewertungen.

Man stellte sich bereitwillig auf Waagen, die aus Körpergewicht und Größe die Lebenserwartung errechneten und erschien regelmäßig zu Gesundheitschecks, bei denen schon ein Erkrankungsrisiko als etwas Pathologisches galt. Heraus kamen Zahlen, die die US-Bevölkerung in Dollarwerten maßen und eine Rechtfertigung für steigende öffentliche und private Gesundheitsausgaben lieferten.

Tätowierte SV-Nummer

Risikobewusstsein und -berechnung nahmen Einfluss auf das Verhalten der Menschen, ihre politische Einstellung und sogar ihr Selbstbild. Als in den 1930er Jahren die Methoden der Versicherungsgesellschaften von der Sozialversicherung übernommen wurden, ließen sich manche US-Amerikaner vor lauter Identifikation mit ihrem neuen Status als statistisch erfasste Subjekte ihre Sozialversicherungsnummer auf ihren Bizeps oder ihren Oberschenkel tätowieren.

An die Stelle der im 19. Jahrhundert entwickelten Methoden, die mithilfe von Karteikarten versuchten, die Zukunft einzelner Personen zu prognostizieren, traten im 20. Jahrhundert neue Systeme, die über das Schicksal der US-Amerikaner entschieden. Die Karteikärtchen mit persönlichen Daten dienten mit der Zeit immer weniger der Risikoberechnung und immer mehr dem Risikomanagement.

Vor ein paar tausend Jahren ermahnte der Psalmist seine Zeitgenossen eindringlich, ihre Tage zu zählen, auf dass ihr Herz weise werde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Tage gewöhnlicher Bürger so gründlich gezählt wie nie zuvor, allerdings nicht von ihnen selbst. Und als die Daten anfingen, die Herrschaft über ihr Leben zu übernehmen, hatten Großkonzerne das Heft in der Hand.

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