Aus Le Monde diplomatique: Gericht gegen Gericht

Das Bundesverfassungsgericht und der Euro­päi­sche Gerichtshof streiten über die EZB-Anleihenkäufe. Das legt das fragile Fundament der EU bloß.

Andreas Vosskuhle, Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, setzt seinen roten Hut wieder auf.

Die Karlsruher Richter haben die EZB ultimativ aufgefordert, sich zu den Anleihekäufen zu erklären Foto: Kai Pfaffenbach/reuters

Auf die Weisen zu hören ist in der Regel weise. Außer sie sind sich uneins. Der Streit zwischen dem Euro­päi­schen Gerichtshof (EuGH) und dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über das Programm für den Rückkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) hat alle Welt verwirrt. Dabei war nicht unbedingt absehbar, dass das Public Sector Purchase Program (Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors, PSPP), mit dem die EZB seit 2015 öffentliche Anleihen der Eurozone zurückkauft, zu einem Streit zwischen den Robenträgern in Karlsruhe und Luxemburg führen würde.

Doch dieser Fall, bei dem es um schwer durchschaubare Maßnahmen der Geld(markt)politik in einem Europa unter deutscher Hegemonie geht, macht die geballte Wirkung zunächst unbedeutender Details deutlich, welche Mängel das Gesamtsystem in Zeiten einer großen Krise offenbart.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique, der großen Monatszeitung für internationale Politik. LMd gibt es jeden Monat neu gedruckt und digital sowie zum Anhören. Das komplette Inhaltsverzeichnis der neuesten Ausgabe kann man hier nachlesen: www.monde-diplomatique.de/zeitung.

Das beginnt mit dem grotesken Schauspiel jener „Weisen“, die sich der Neoliberalismus als seine dienstbaren Geister der Entpolitisierung und der Entdemokratisierung zugelegt hat. Diese „Weisen“ verkörpern gewissermaßen das moderne Mysterium der unbe­fleckten Empfängnis im Vollzug der staatlichen Funktionsteilung: Institutionen wie Zentralbank, Finanzmarktaufsicht oder auch Verfassungsgericht wird eine engelsgleiche, politische und ideologische Unschuld unterstellt, die angeblich die Unparteilichkeit all ihrer Urteile verbürgt. Nach dem ­Motto: Durch Konformität zur Weisheit.

Aber dieser idyllische Traum zerplatzt, wenn die Weisen selbst sich in die Haare geraten. Im Normalfall erscheint die Weisheit unteilbar. Aber sobald es zum Streit kommt, gibt es mindestens zwei Weisheiten. Und auch die Politik, der man die Tür gewiesen zu haben glaubte, kehrt durch den Hintereingang zurück.

Worum geht es also wirklich? Es geht um die Art und Weise, wie die EZB auf den Finanzmärkten die von den europäischen Einzelstaaten ausgegebenen Schuldentitel zurückkauft. Diese Intervention ist besonders in Krisen überlebenswichtig, wenn die Finanzinvestoren panisch alles Hals über Kopf verkaufen und die Zinsen immer weiter in die Höhe treiben. Dem wirkt die EZB entgegen; ihre Aufkäufe tragen maßgeblich dazu bei, die Zinsen auf einem angemessenen Niveau zu halten – andernfalls würden in vielen Ländern die Kosten des staatlichen Schuldendienstes explodieren.

Verfassungsrichter als Währungshüter

Ohne dieses Eingreifen mit astronomischen Summen hätte der Euro 2012 sein Leben ausgehaucht, und er würde auch heute wieder in den letzten Zügen liegen. Wer könnte also nur auf die Idee kommen, sich den geldpolitischen Maßnahmen der EZB zu widersetzen, die quasi im Alleingang das Friedensprojekt zwischen den europäischen Völkern retten? Richtig: das deutsche Bundesverfassungsgericht.

Beim Geld hört in Deutschland bekanntlich der Spaß auf. Und das deutsche Verfassungsgericht ist vermutlich die Instanz, mit der am wenigstens zu spaßen ist. Übrigens hatte es schon bei der Ratifizierung der Maastricht-Verträge angekündigt, genau zu beobachten, was die EBZ tut, jene neu entstandene Institution also, der Deutschland zitternd und zagend seine heißgeliebte D-Mark anvertraut hatte. Darauf kam das BVerfG in den 2010er Jahren zurück, als die dramatischen wirtschaftlichen Verwerfungen im Euroraum die EZB zu „außergewöhnlichen Maßnahmen“ veranlasst hatten.

Damals nutzten die deutschen Währungshüter, die bereits das Attribut „außergewöhnlich“ in höchste Unruhe versetzt, die Chance, gemeinsam mit dem BVerfG die Vereinbarkeit des PSPP mit den Maastricht-Verträgen und mit dem Status der EZB zu prüfen. Schon 2014 hatte das deutsche Gericht die schroffe Ansicht geäußert, die Interventionen der EZB seien mit dem EU-Recht unvereinbar, und gleichzeitig den EuGH ersucht, diese Rechtsauffassung durch die Begrenzung des EZB-Mandats für die Währungspolitik zu bestätigen.

Der EuGH antwortete erst 2018 – nach erneuter Mahnung – und wies die Unvereinbarkeitsvermutung des BVerfG zurück. Zwei Jahre später bringt das höchst ungehaltene Karlsruher Gericht seine Weisheit erneut gegen die der Luxemburger Richter in Stellung. Die beiden Weisen verurteilen sich also wechselseitig, und derzeit sind es die deutschen Verfassungsrichter, die ihre europäischen Kollegen der Missachtung des Rechts beschuldigen.

Kreditgeber letzter Instanz

Mit welcher Begründung? Die Maastricht-Verträge und die EU-Statuten, so das BVerfG, unterwerfen die Interventionen der EZB dem Gebot der „Verhältnismäßigkeit“ – das im vorliegenden Fall verletzt worden sei. Aber was bedeutet Verhältnismäßigkeit? Dafür gibt es mindestens drei Kriterien.

Erstens darf der Rückkauf der öffentlichen Schuldentitel durch die EZB 33 Prozent eines Anleiheprodukts nicht überschreiten – tatsächlich hat die EZB dieses Gebot bislang eher lax interpretiert. Zweitens soll sich die Aufteilung der Rückkäufe aus den Mitgliedstaaten nach deren Anteil am Grundkapital der EZB richten – diese Regel wurde sogar beim jüngsten, pandemiebedingten Notankaufsprogramm eingehalten.

Es war vor allem der Umgang mit dem dritten Kriterium, das den deutschen Zorn erregt hat: Die Interven­tio­nen der EZB dürfen keine „unverhältnismäßigen“ Nebenwirkungen für die Wirtschaft haben. Aber was sind die Kriterien für „Unverhältnismäßigkeit“? Das BVerfG verweist hier auf die Verluste, die den Sparern durch die von der Zentralbank bewusst niedrig gehaltenen Zinssätze entstünden.

Hätte man die Zinsen auf ihrem Höhenflug belassen und damit das Wachstum erstickt, hätte allerdings das in Aktien investierte Kapital der Sparer gelitten. Und was, wenn das gesamte Europrojekt platzen und die Finanzindustrie zu Boden gehen würde? Würden sich die gesamten Ersparnisse der Leute dann nicht erst recht in Luft auflösen?

Beruhigungsmittel für die Finanzmärkte

Hier zeigt sich, was passiert, wenn Geld zum Gegenstand von Verfassungsrecht wird. Die Verfassungsrichter köcheln sich eine halbgare ökonomische Theorie zusammen, die in dem absurden Anspruch gipfelt, die Geldpolitik „verrechtlicht“ zu haben. Darin äußert sich eine sehr deutsche, dem Trauma der Hyperinflation (von 1923) entspringende Vorstellung: Regeln als Beruhigungsmittel.

Es ist aber gerade in Krisenzeiten nicht möglich, die Geldpolitik vorgefassten Regeln zu unterwerfen. Um auf von Panik erfassten Finanzmärkten erfolgreich intervenieren zu können, muss der Staat als „Kreditgeber letzter Instanz“ auftreten: als souveränes Organ, das von allen Beschränkungen, denen die anderen ökonomische Akteure unterliegen, befreit ist.

Die Zentralbank spielt dabei eine zentrale Rolle, weil sie die einzige Quelle der Geldschöpfung „aus dem Nichts“ ermöglicht, die sich allein auf ihr symbolisches Kapital an Glaubwürdigkeit stützt. Dieses gesamte Vertrauenskapital ist im Krisenfall einzusetzen, um so viel Geld zu schöpfen, wie es nötig ist, um sich den auf die Anleihemärkte drängenden Finanzmassen entgegenzustemmen. Nichts anderes bedeutete im Juli 2012 Mario Draghis „Whatever it takes“. Allein diese Verkündung einer unbegrenzten Interventionsbereitschaft konnte damals die Märkte beruhigen und den Euro retten. Ebensolche Maßnahmen sind in der gegenwärtigen, noch weit größeren Krise unbedingt geboten.

Genau dem widersetzt sich jedoch das deutsche „Gelddogma“ mit aller Kraft und droht damit das gesamte europäische Gebäude juristisch in die Luft zu sprengen. Doch ökonomisch gesehen gibt es für die Geldpolitik in der Krise nur eine Regel: dass es dafür keine Regel gibt. Die staatliche Geldpolitik bewegt sich in solchen Zeiten zwangsläufig im Bereich des „Unregelbaren“. Aber diese simple Einsicht ist für das deutsche „Geldethos“ unerträglich – jedenfalls für das der Verfassungsrichter.

Schlag ins Gesicht der deutschen Europaseligkeit

Eingedenk der Hyperinflation von 1923 lehnt die deutsche Geldpolitik strikt jeglichen Ermessensspielraum ab, den sie als fatalen Missbrauch begreift (was übrigens allgemein betrachtet nicht ganz falsch ist). Aber leider lässt die Rolle des Geldes in der kapitalistischen Wirtschaft keine andere Wahl: Wenn auf den Kapitalmärkten, die auch die EU großzügig dereguliert hat, die Krise einmal ausgebrochen ist, kann den Zerfall der Währung nur noch die souveräne Handlung des Staates als Gläubiger letzter Instanz aufhalten – ein Handeln nach völlig freiem Ermessen, dem geraden Gegenteil einer festen Regel.

Der deutsche Ordoliberalismus, der die gesamte EU-Struktur prägt, verfolgt im Grunde zwei konträre Ziele: Er fordert einerseits deregulierte Kapitalmärkte als Zuchtmeister der Wirtschaftspolitik und andererseits feste Regeln für die Geldpolitik. Doch die verliert damit jede Möglichkeit, auf plötzlich entstehende Krisen zu antworten, die auf den Geld- und Währungsmärkten immer wieder auftreten.

Genau dieser Widerspruch bricht nun erneut auf – und wirkt wie ein Schlag ins Gesicht der deutschen Europaseligkeit. Denn plötzlich ist man hin- und hergerissen zwischen zwei unvereinbaren Leidenschaften, die bislang als identisch galten: die Liebe zur ­Europäischen Union und zu Deutschland.

Dass man beide Gefühle nicht abwechselnd bedienen kann, liegt auf der Hand. Dabei ist das eigentliche, oft unterschlagene Problem ein anderes: die Gefahr eines nicht mehr beherrschbaren Chaos. Deutschland glaubte immer, es könne sich vor der Diskussion über die Verteilung der Kompetenzen und Zuständigkeiten in Europa drücken und alle Probleme in der „Verfassungstruhe“ der EU-Verträge deponieren.

Eine Demokratie, die noch nicht existiert

Aber den Schlüssel für diese Truhe besitzt definitionsgemäß der EuGH. Folgerichtig brach der jüngste Konflikt genau in diesem Grenzbereich aus – und legte damit das fragile Fundament des europäischen politischen Gebäudes bloß. Aus Sicht des EuGH kann er allein, als oberste Rechtsprechungsinstanz, die einheitliche Anwendung des europäischen Rechts sichern. Deshalb sei es nicht statthaft, dass ihm ein nationales Verfassungsgericht, das in der Hierarchie unter ihm angesiedelt ist, diesen Vorrang bestreitet. Schließlich würde das nur dazu führen, dass natio­nale Gerichte Einsprüche ohne Ende erheben.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht beansprucht indes die gleiche Rolle und verweist auf den Rechtsstandpunkt, den es seit 1993 entwickelt hat: Solange die umfassenden demokratischen Institutionen fehlten, die Europa erst zu einer vollständigen, wirklich legitimierten politischen Gemeinschaft machen würden, sei die Union als „zwischenstaatliches Gebilde“ zu betrachten. Und so beansprucht das deutsche Gericht, selbst zu bestimmen, was sie für die fundamentalen Interessen der Deutschen hält – wie etwa den Umgang mit deren Geld.

Man mag diese Haltung lächerlich finden. Und im Rückblick muss man erkennen, wie unsinnig es war, sich mit diesen Deutschen auf eine gemeinsame Währungsunion einzulassen. Dennoch haben die Urteilsgründe des Karlsruher Gerichts durchaus ihr Gewicht. Denn tatsächlich hat das europäische Modell bis heute sein Zwitterdasein nicht überwunden. Es verharrt im Niemandsland der Souveränität, hat also die rein nationale Ebene zwar verlassen, ist aber noch nicht auf der europäischen Ebene angekommen. Folgerichtig hat das deutsche Gericht schon früh daran erinnert, dass die Entscheidungen der Union mangels wirklich souveräner Instanzen an einem Legitimitätsdefizit leiden.

In seiner Rolle als Hüter der „deutschen Demokratie“ widersetzt sich das Karlsruher Gericht nicht grundsätzlich einer Übertragung von Hoheitsrechten an übernationale Instanzen. Es fordert jedoch schlicht und ziemlich schlüssig, dass „eine Etage höher“ erst einmal die legitimierte Instanz vorhanden sein müsse, auf die die Entscheidungsmacht übergehen kann. Die fehlt jedoch nach wie vor.

Prinzip einer unabhängigen Zentralbank

Angesichts eines noch nicht demokratischen Europas hält es das deutsche Gericht für gerechtfertigt, das demokratische Selbstbestimmungsrecht weiterhin dort zu verankern, wo es derzeit zwangsläufig angesiedelt ist: auf der nationalen Ebene. Der ­EuGH mag der Hüter der demokratischen Rechte in Europa sein, aber er ist es in einer europäischen Demokratie, die noch nicht existiert.

Den deutschen Verfassungsrichtern mangelt es also nicht an argumentativer Schlagkraft; ebenso wenig jedoch an Widersprüchen. Sie kleiden sich zwar ins Gewand demokratischer Prinzi­pien­wächter, aber nur, um eine Institution zu verteidigen, die am wenigsten demokratisch legitimiert ist, nämlich die unabhängige Zentralbank.

Genauer: Sie verteidigen das Prinzip einer unabhängigen Zentralbank – und werfen der EZB damit vor, sich nicht an dieses im Grunde undemokratische Prinzip zu halten. Vielleicht sind sich die Karlsruher Richter dieses Widerspruchs nicht einmal bewusst. Wären sie es, würden sie zweifellos erwidern, dass Deutschland ja auf demokratischem Wege entschieden habe, mit der eigenen Zentralbank eine Institution zu schaffen, die sich der üblichen demokratischen Kontrolle entzieht. Der deutschen Auslegung widersprochen haben bislang einige der EU-Mitgliedstaaten, die sich von den geldpolitischen Obsessionen der Deutschen nicht haben anstecken lassen. Aber die Rede von der deutschen Hegemonie ist keine leere Drohung, und in der Vergangenheit hat die Berliner Regierung ihre Macht mit voller Härte eingesetzt, um die anderen zum Schweigen zu bringen.

Hier beginnt nun ein völlig neues Spiel zwischen Deutschland und den europäischen Institutionen – und zwar auf höchster Ebene. Die EZB und neuerdings auch die Europäische Kommission drohen damit, gegen Deutschland ein Verfahren wegen Verstößen gegen das EU-Recht einzuleiten. Ein äußerst ehrgeiziges Vorhaben, für das es freilich allen Grund gibt: Das Karlsruher Gericht hat die EZB – deren eigene Statuten sie gerade von jeglicher Erklärungspflicht entbinden – ultimativ aufgefordert sich zu erklären und es davon zu überzeugen, dass sie die Kriterien der „Angemessenheit“ sehr wohl einhält. Andernfalls könnte der Bundesbank untersagt werden, sich an dem EU-Anleiheprogramm zu beteiligen.

Im Niemandsland der Souveränität

Zu dem schon angerichteten juristischen Chaos käme damit das finanzpolitische hinzu. Denn selbstredend würde es das Ende des Euro bedeuten, wenn sich Europas stärkste Wirtschaftsmacht nicht mehr an den Operationen des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) beteiligen würde – und das in einer Situation, in der sein Funktionieren überlebenswichtig ist.

In dem Anflug von Panik, der nun die Eurozone ergreift, sind alle hastig zusammengeschusterten „Lösungen“ gleichermaßen trübselig. Einige wollen die Vergemeinschaftung der Staatsschulden (in Form von Eurobonds oder Coronabonds) durchsetzen und übersehen dabei, dass eine Vergemeinschaftung der Schulden das Handeln des Gläubigers letzter Instanz niemals ersetzen kann. Denn es handelt sich um zwei völlig verschiedene Maßnahmen.

Die eine, die Vergemeinschaftung der Staatsschulden durch Eurobonds, ist praktisch ein Arrangement zwischen Staaten mit dem Ziel, für einige (wenige) die Schuldenlast zu verringern – eine Übereinkunft, die freilich in Krisenzeiten das Misstrauen der Finanz­investoren nicht eindämmen könnte. Das könnte nur eine Maßnahme, die in den alleinigen Verantwortungsbereich der Zentralbank fällt: der Rückkauf von Schuldentiteln in astronomischem Umfang.

Andere interessieren sich nicht für solche technischen Details und argumentieren, gerade jetzt sei der ideale Zeitpunkt für den großen demokratischen Fortschritt gekommen – ein frommer Wunsch, der sich nur mit einer gehörigen Portion stimmungsaufhellender Substanzen aufrechterhalten lässt. So also steht es um die europäische Einigkeit in dramatischen Krisenzeiten.

Eine wirklichkeitsnähere „Lösung“ ist weniger berauschend, aber vielleicht die einzig praktikable: Die staatlichen Hauptdarsteller selbst müssten sich, nachdem sie den zweiten Akt ihres Dramas großsprecherisch und vor aller Welt dargeboten haben, auf ein Hinterzimmergeschäft einlassen, um den Schaden einzudämmen, zum Beispiel auf einen Kompromiss zwischen den beiden Rechtspositionen.

Er könnte darin bestehen, dass die EZB aufgefordert wird, die Verhältnismäßigkeit ihrer Anleihepolitik zu „erläutern“, woraufhin diese eine entsprechende „Erläuterung“ liefert. Sie würde also die brave Tochter spielen und sich der Denkweise der deutschen Richter anpassen. Doch zugleich könnte die EZB, unter Einsatz des üblichen ökonometrischen Blendwerks, ihren Karlsruher Kritikern klarmachen, dass es für den deutschen Sparkurs insgesamt weitaus günstiger wäre, das ­Anleiheprogramm durchzuziehen, als es zu kippen. Dass also die EZB mit ihrem Vorgehen dem „Gebot der Verhältnismäßigkeit“ voll und ganz gerecht wird.

Auf einem ganz anderen Blatt steht, wie nachhaltig eine solche „Lösung“ sein kann. Mit geflickten Reifen kann man nicht lange fahren. Probleme, die man unter den Teppich kehrt, bestehen fort, zumal wenn sie so grundlegend sind. Der Brexit betrifft zwar nicht direkt die Eurozone, aber er hat mit dem gegenwärtigen Rechtsstreit um die EZB-Politik eines gemeinsam: den Ursprung in jenem europäischen Bermudadreieck, in dem bislang jeder Entwurf einer gemeinsamen europäischen Souveränität verschwunden ist.

Deshalb hätte es seine innere Logik, wenn die europäische Fehlkonstruktion an ihrer zentralen gedanklichen Leerstelle scheitern würde, und das ist die demokratischen Selbstbestimmung.

Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke

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