Ausbildung von Geflüchteten in Bremen: Industrie schafft Integration

Ein Berufsschulzentrum, das SOS-Kinderdorf Bremen und Airbus haben sich zusammengetan. Sie bilden junge Geflüchtete zu Mechatronikern aus.

Konzentrierte junge und alte Menschen

Erfolgreiche Klasse: junge Geflüchteten und ihre Ausbilder Foto: Kay Michalak

BREMEN taz | Die Atmosphäre ist konzentriert. Drei junge Männer, halbe Kinder eigentlich noch, brüten vor Rechnern über Programmiercodes, die gleichzeitig von einem Beamer an die Wand geworfen werden. Ein Mann, der fast ihr Großvater sein könnte, leitet sie an, erklärt, rechnet und ermutigt zum Selberrechnen. Dabei schaut Gerd Urban, so sein Name, immer wieder hellwach und prüfend über die Ränder seiner Brille ins Rund.

Im Nachbarraum löten drei weitere junge Männer unter überdimensionierten Lupen Leiterplatten, sogenannte Platinen, auf die später die Software gespielt werden soll. Der Ausbilder mit weißem Vollbart, Nickelbrille und orangefarbener Fleecejacke wirkt auf den ersten Blick eher wie ein freundlicher Gärtner als der hochqualifizierte Raumfahrtingenieur, der er ist: Heinrich Fischer, der hier Bremer Berufsschülern im Rahmen eines Betriebspraktikums Grundlagen von Robotik und Mechatronik nahebringt, ist ebenso wie sein Kollege Urban nebenan Raumfahrtingenieur bei der Bremer Niederlassung des europäischen Technologiekonzerns Airbus Space & Defense.

Gemeinsam waren Urban und Fischer seit den 1990er Jahren an diversen europäischen Raumfahrtprojekten beteiligt: am Zentralcomputer der internationalen Raumstation ISS – wo sich gerade der deutsche Astronaut Alexander Gerst aufhält –, am Trägerraketenprogramm „Ariane“ und zuletzt bei der Entwicklung des Servicemoduls für die Raumstation „Orion“, die 2019 ins All aufbrechen soll. Jetzt steht Urban kurz vor dem Ruhestand, den sein Kollege Fischer bereits angetreten hat.

An einer der Werkbänke in der kleinen Werkstatt in der Bremer Neustadt sitzt an diesem Vormittag auch George Okoro und versucht sich am Löten von Leiterplatten. Okoro ist ein Pastor aus Nigeria, der in Bremen eine afrikanische Gemeinde betreut. Darüber hinaus arbeitet er schon lange als Integrationslotse bei SOS-Kinderdorf und hat sich hier immer wieder für unbegleitete minderjährige Geflüchtete engagiert – gemeinsam mit seinem Mentor, dem Bremer Pastor im Ruhestand, Hans-Günter Sanders, der an diesem Vormittag ebenfalls in der kleinen Werkstatt vorbeischaut.

Eine einmalige Kooperation

Und damit wäre der Großteil der Bremer Protagonisten der Geschichte genannt, die hier erzählt werden soll: die Geschichte eines ebenso innovativen wie beispielhaften Bremer Integrationsprojekts für minderjährige unbegleitete Geflüchtete, für das sich drei ausgesprochen unterschiedliche Player zusammengetan haben: SOS-Kinderdorf Bremen, Airbus und das Berufsschulzentrum Bremen Neustadt, zu dessen Schülern auch die jugendlichen Praktikanten hier gehören: Das sind Mohammad Al Abdullah, Alireza Akbarian, Ali Alkateeb, Mohammad Jawadi, Mohamed Hassan und Hamidreza Hosseini, sechs von insgesamt zwanzig Schülern einer speziellen Berufsschulklasse für Geflüchtete mit Sprachförderung und Technologieschwerpunkt, die von Airbus gefördert wird. Die anderen Schüler der Klasse wurden für ihre Betriebspraktika auf weitere Bremer Technologieunternehmen verteilt, das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz zum Beispiel.

Die Geschichte dieses Projekts, das Integrations- und Industriepolitik auf exemplarische Weise zusammenbringt, beginnt im Sommer 2015: damals, als sehr viele Menschen in diesem Land die Bilder von den Hunderten anderen Menschen nicht mehr ertragen können, die täglich auf der Flucht vor Not und Krieg im Mittelmeer ertrinken; in jenem Sommer, als Angela Merkel schließlich den berühmten Satz sagt, aus dem man ihr seitdem einen Strick zu drehen versucht: „Wir schaffen das!“

Mohammad Al Abdullah zum Beispiel bricht in diesen Tagen fünfzehnjährig aus seiner syrischen Heimatstadt Hama auf, Eltern und jüngere Geschwister zurücklassend, um über die Türkei und die Balkanroute nach wochenlangem Fußmarsch schließlich in Bremen anzukommen. Oder Alireza Akbarian, der – ebenfalls allein – aus dem Iran, wohin seine Familie vor der Gewalt in Afghanistan geflohen war, nach Europa geschickt wird.

In diesem Sommer 2015 werden die unbegleiteten Teenager zu Hunderten in Zelten auf dem Bremer Stadtwerder oder in Turnhallen untergebracht. Zwei ehrenamtliche „Integrationslotsen“ vom SOS-Kinderdorf Bremen – Hans-Günter ­Sanders und sein jüngerer nigerianischer ­Kollege George Okoro – machen sich auf, um sich in dieser Ausnahmesituation einen Überblick über Hilfsmöglichkeiten zu verschaffen. Und sie kommen immer wieder.

Junger und alter Mann in technische Arbeit vertieft

Der Helfer Pastor George Okoro macht mit. Rechts der Syrer Alireza Akbarian Foto: Kay Michalak

Einmal mit einem Friseur, der als vertrauensbildende Maßnahme den jungen Männern hippe Haarschnitte verpasst. Ein anderes Mal haben sie Fahrräder dabei und bringen den jungen Männern das Radfahren bei, oder sie organisieren Gesprächsrunden, in denen die Jugendlichen von ihren Familien, Kriegs- oder Flucht­erfahrungen und auch von ihren Hoffnungen erzählen können.

Nach Bremen, weil es am Meer liegt

Der junge Syrer Ali Alkateep hatte Bremen als Ziel gewählt, weil er gehört hatte, dass die Stadt am Meer liege. In der Airbus-Praktikumsgruppe gehört er jetzt zu denen, die an der Hardware für die kleinen Testroboter arbeiten, die am Ende des Produktionsprozesses entstehen, der hier unter Echtzeitbedingungen geprobt wird. Am Meer müsse es warm sein, hatte er damals geschlussfolgert. Warm wie zu Hause, wo das Leben wegen des Krieges unerträglich geworden war. 2015 bricht er zusammen mit seinem älteren Bruder zu Fuß aus seinem Heimatort in den Golanhöhen in Richtung Jordanien auf. Knapp fünfzehn Jahre ist er da alt. Über drei Monate sind Ali und sein Bruder unterwegs. Als Ali dann in Bremen ankommt, ist alles ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Vor allem ist es kalt.

Bremen hatte in den Jahren 2015 und 2016 eine besonders hohe Zahl von Geflüchteten zu bewältigen. Im Vergleich zum Bundesdurchschnitt lag die Quote bei 400 Prozent. Diese Zahl nennt ­Judith Mahlmann, Schulleiterin des Berufsschulzen­trums im Bremer Stadtteil Neustadt. Die energische Frau mit dem ungestümen Lockenkopf empfängt im Konferenzraum der weitläufigen Schulanlage. Das Schulzentrum bereitet regulär auf Ausbildungen in den Bereichen Hauswirtschaft, Gastronomie und Soziales vor. Seit 2016 gibt es hier als Pilotprojekt diese Klasse mit Technologieschwerpunkt, die aus einer Privatinitiative entstand.

„Als ich 2015 unterwegs in den Flüchtlingsunterkünften war, wurde mir schnell deutlich: Es reicht nicht, wenn die jungen Leute nur die deutsche Sprache lernen,“ sagt Hans-Günter Sanders, der als junger Pastor in den 1980er Jahren ein Gesicht der Bremer Friedensbewegung war. In seiner Zions-Gemeinde gewährte er einst kurdischen Flüchtlingen das erste Bremer Kirchenasyl. Auch Bremens erster afrikanischer Gemeinde gab er dort damals Räume, für die eines Tages Pastor George Okoro aus Nigeria nach Deutschland kam, der nun ergänzt: „Deutschland ist ein Land mit starken Strukturen. Das bewundere ich sehr. Aber diese Strukturen muss man verstehen, sonst kann man an ihnen auch scheitern.“

Besonders die jungen Männer seien gefährdet, so Sanders, da „Mannsein“ in ihren afrikanischen oder arabischen Herkunftsländern etwas ganz anderes bedeuten würde als hier. „Dort sind sie alles, hier erst einmal nichts.“ Dass es sich bei Sanders und Okoro um prinzipienstarke Theologen aus zwei sehr unterschiedlichen Kontexten handelt, macht sie für die jungen muslimischen Männer zu Autoritäten. Missionierung war nie ein Thema, Auseinandersetzung über Werte dagegen schon. „Natürlich wollten wir den Jugendlichen auch deutlich machen, das Deutschland Arbeit ist“, fügt Hans-Günter Sanders hinzu. Mit Sozialarbeit allein sei das kaum zu erreichen. Vielleicht aber damit, die Tür zu einem Spitzenunternehmen, einer Krone der deutschen Industrie, zu öffnen. Das klingt vielleicht riesig, aber es war uns wichtig.“

An dieser Stelle kommt Gerd Urban ins Spiel. Der gebürtige Allgäuer ist nicht nur Raumfahrtingenieur sondern auch Betriebsrat bei Airbus. Sanders und Urban kennen sich schon lange und entwickeln nun den Plan, gemeinsam mit Airbus und SOS-Kinderdorf Bremen ein Modellprojekt ins Leben zu rufen, das versuchen sollte, den enormen Veränderungsdruck, unter den Land und Gesellschaft durch Migration und Digitalisierung geraten sind, auf exemplarische Weise produktiv zu machen. Und damit auch eine Vision dafür zu entwickeln, wie das konkret aussehen könnte, dieses Merkel’sche „Wir schaffen das!“.

„Wir stehen ja vor einem strukturellen Wandel in der produzierenden Industrie Richtung Elektromobilität“, erläutert Gerd Urban. Doch darauf sei die hiesige Industrie nicht vorbereitet, die viel zu lange an den klassischen mechanischen Schlüsseldisziplinen wie Getriebe- und Motorenbau festgehalten habe und sich die nötige Elektronik und Informationstechnik zuliefern ließ, statt sie selbst zu entwickeln. Schon sehr bald wird es Urbans Prognose zufolge daher ein Zuviel an Fachkräften im mechanischen Maschinenbau und ein Zuwenig in den Bereichen Elektronik, Informationstechnik und Mechatronik geben. Weshalb also die jungen Geflüchteten nicht gleich in diese Richtung ausbilden?

Wenn alle an einem Strang ziehen
Junger Mann an einer Art Mikroskop

Muhammad al Abdullah kommt aus Syrien, rechts sein Ausbilder Gerd Urban Foto: Kay Michalak

Mit dem Schulzentrum Neustadt wird schnell der nötige Bildungsträger gefunden. Urban kann seinen Betriebsrat davon überzeugen, das Projekt zu unterstützen und bei der Unternehmensleitung durchzusetzen. Und so eröffnet mit Beginn des Schuljahres 2016/17 im Schulzentrum Neustadt eine erste einjährige Berufsorientierungsklasse mit Sprachförderung für 20 Schüler, die auch Unterricht in Robotik, Informatik und Mechatronik erhalten – von dafür freigestellten Airbus-Mitarbeitern, darunter Gerd Urban selbst. Die Anschaffung des nötigen Unterrichtsmaterials wird ebenfalls von Airbus finanziert. Inzwischen hat der zweite Jahrgang das Programm durchlaufen und abgeschlossen.

Berufsschulen sind in besonderem Maß von der hohen Zahl minderjähriger Geflüchteter betroffen, die in Deutschland noch bis zum 18. Lebensjahr schulpflichtig sind. Aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse und unbelegter Bildungsbiografien, wie Schulleiterin Judith Mahlmann das nennt, sind diese Schulen in der Regel erste Anlaufstelle. Hier können Grundkenntnisse in der deutschen Sprache erworben werden und ein Hauptschulabschluss: die wichtigsten Einstiegsqualifikationen für eine spätere Berufsausbildung.

Für Ali Alkateeb ist das Schulsystem mit seinen Bildungsmöglichkeiten der größte kulturelle Unterschied, den er auf Anhieb zwischen Syrien und Deutschland benennen kann. Er hofft, dass er nach dem Schulabschluss einen Ausbildungsplatz in der Elektronikbranche bekommt. Mit dem Airbus-Zertifikat in seinen Bewerbungsunterlagen rechnet er sich gute Chancen aus.

Ein Wermutstropfen ist für ihn, dass er als syrischer Staatsangehöriger bei Airbus selbst keine Ausbildung machen kann. Bürger bestimmter Staaten dürfen den internationalen Bestimmungen zufolge, die für dieses sicherheitssensible Technologieunternehmen gelten, das Werksgelände nicht einmal betreten. Das Land von Diktator Baschar al-Assad steht auf der Tabuliste ganz oben, ebenso wie Somalia und Afgha­nistan, Länder, aus denen andere Geflüchtete in der Klasse kommen. Dieser Sicherheitsauflagen wegen mussten auch für das Betriebspraktikum im Frühjahr externe Räume angemietet werden, die kleine Werkstatt in der Bremer Neustadt eben. Der reguläre Unterricht findet in der Berufsschule statt.

Nicht alle Schüler halten das große Arbeitspensum des Programms durch. Im ersten Jahrgang war auch die Abschiebung einzelner Schüler mitten im Programm noch Thema. Ajabnoor Khan ist so ein Fall. Den Tag, an dem er nach einer Odyssee von Kabul durch die halbe Welt in Bremen ankommt, hat er nie vergessen. „Es war der 16. Dezember 2015.“ Aus dem Aufnahmelager kommt er ins Berufsschulzentrum Neustadt und eine von SOS-Kinderdorf betreute Wohngemeinschaft. Mit einem Film über Kinderarbeit in Afghanistan gewinnt er einen Schulpreis. „Das ist mir als Erstes aufgefallen“, sagt er. „Wie gut es in Deutschland den Kindern geht.“

Trotzdem droht dem damals Siebzehnjährigen die Abschiebung, als im Frühjahr 2017 sein Asylantrag abgelehnt wird. Doch ist das Airbus-SOS-Kinderdorf-Projekt inzwischen so prominent, dass es bald nicht nur Ajabnoor Khan Schutz bietet: Wer sich aktiv an Integrationsmaßnahmen beteilige, heißt es kurz nach der Abschlusspräsentation des ersten Jahrgangs aus Bremer Senatsverwaltungskreisen, werde nicht abgeschoben. Inzwischen bereitet sich Khan auf der Europaschule in Bremen auf seinen Mittleren Schulabschluss vor und hofft, dass er es bis zum Abitur schafft und einmal Informatik studieren kann.

Oliver Juckenhöfel

„Die Sprache der Technik ist die Sprache der Zukunft. Grenzen spielen keine Rolle, wenn man die Themen Migration und Technik zusammenführt“

Bei der Abschlusspräsentation des ersten Projektjahrgangs, auf der unter anderem die im Unterricht gebauten und programmierten kleinen Roboter vorgestellt werden, geben sich Anfang Mai 2017 der Bremer Airbuschef Oliver Juckenhöfel und die Bremer Bildungssenatorin Claudia Bogedan im Schulzentrum Neustadt höchstpersönlich die Ehre und kündigen die Fortsetzung des Projekts an: „Die Sprache der Technik ist die Sprache der Zukunft“, so Juckenhöfel damals. „Grenzen spielen keine Rolle mehr, wenn man die Themen Migration und Technik zusammenführt.“

Inzwischen hat der zweite Jahrgang das Schuljahr abgeschlossen. Wie es aussieht, sind alle ­Projektteilnehmer für die nächsten Ausbildungsschritte untergebracht. Ali Alkateep und Mohammad Al Abdullah haben Zusagen für einen Ausbildungsplatz als Mechatroniker in einem großen deutschen Unternehmen. Mohammad Jawadi aus der Softwarepraktikumsgruppe, der 2016 aus Somalia nach Bremen gekommen ist, beginnt nach dem Sommer eine Ausbildung in einer Bremer Softwareschmiede. Nach dem Sommer geht dann auch der dritte Projektjahrgang an den Start.

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