Aussteiger in Kalifornien: Anarchie bei 45 Grad

Für die Bewohner von Slab City ist dies der letzte freie Ort in den USA. Aussteiger, Absteiger und Ausgestoßene richten sich hier häuslich ein.

Eine typische Wohnanlage in Slab City. Bild: Kerstin Zilm

SLAB CITY taz | Vier Stunden bin ich von Los Angeles Richtung Südosten gefahren, die letzte davon neben einem nach toten Fischen stinkenden Salzsee. Die Temperatur im Auto beträgt 42 Grad. Die Klimaanlage surrt auf Hochtouren. Auf einer Schotterstraße geht es die letzten Kilometer nach Slab City - zu einem Campingplatz mitten in der Ödnis nahe der mexikanischen Grenze. Mein Ziel: Robi Hunters Heim. Das besteht aus drei Wohnmobilen und einem wohnzimmergroßen Bretterverschlag.

Bevor Robi Besucher begrüßt, muss sie ihre kläffenden Hunde in den aus Fenstergittern und Holzplanken gezimmerten Zwinger scheuchen. Robi ist 56 Jahre alt. Ihre blonden Haare hat sie unter einem breitkrempigen schwarzen Strohhut zusammengebunden. Sie trägt ausgeleierte graue Jogginghosen und ein weites T-Shirt. Robi winkt mir aufmunternd zu. "Steig ruhig aus! Die Hunde kommen da nicht raus!" Ich öffne die Autotür. Staubiger Wind, heiß wie Luft aus einem aufgeheizten Backofen, nimmt mir den Atem.

Früher nutzte das US-Militär die Gegend als Bombenübungsplatz. Mitte der 60er Jahre ließen sich die ersten Camper auf dem verlassenen Stützpunkt nieder und nannten ihre improvisierte Siedlung Slab City - nach den vom Militär zurückgelassenen Betonplatten - concrete slabs. Für sie ist es der letzte freie Ort in Amerika.

Niemand fragt nach Papieren

Der Ort Ehemals Camp Dunlap, Übungsgelände des US-Militärs. Offiziell im Besitz des Staates Kalifornien, doch niemand kümmert sich um die Ödnis und deren Bewohner. Südlich von Los Angeles und Palm Springs, etwa eine Stunde nördlich von der mexikanischen Grenze.

Campen Seit Mitte der 60er Jahre ein improvisierter Campingplatz ohne fließendes Wasser, Strom und Müllabfuhr, wo Aussteiger, Anarchisten, Abenteurer und Opfer der Wirtschaftskrise leben Selbsternannter "letzter freier Ort Amerikas". Von Oktober bis April kommen vor allem "Snowbirds" hierher: Rentner aus dem Norden, die in gut ausgestatteten Wohnmobilen der Kälte entfliehen.

Attraktion East Jesus, Künstlerkolonie, 2006 gegründet von Charles Russel, 2007 Kulisse in dem Sean-Penn-Drama "Into The Wild" nach der gleichnamigen Reportage von Jon Krakauer.

Buch: Die ungekürzte Fassung dieses Textes erschien in dem Buch „Völlig utopisch – 17 Beispiele einer besseren Welt“. Herausgeber Marc Engelhardt, Pantheon Verlag, 240 Seiten, 14,90 Euro.

Robi hat ihren Stellplatz mit Autoreifen und bunten Flaschen markiert. Hier gibt es weder Platzordnung, Strom, Wasser, Kanalisation noch Müllabfuhr. Dafür kümmert sich auch niemand um Miete oder Bauvorschriften. Gelebt wird nach der Regel "Du kannst machen, was du willst, solange du deinen Nachbarn nicht auf die Nerven gehst". Man kann sich anders als in den meisten US-Bundesstaaten jederzeit unter freiem Himmel betrinken, rauchen was man will, auch nackt und ohne Helm Fahrrad fahren. Niemand fragt nach Kreditwürdigkeit, Ausweis, Einwanderungspapieren, Führerschein oder Führungszeugnis. Doch überleben kann hier nur, wer sich an extreme Naturgewalten anpasst, exzentrische Nachbarn toleriert und sich selbstständig ohne Annehmlichkeiten des Konsumalltags versorgen kann.

Robi winkt mich in den Bretterverschlag im Schatten eines knorrigen Baums. Sie nennt ihn "Great Room". Mit Partner Marty hat sie ihn aus Telefonmasten, Autotüren, rostigem Wellblech, Sperrholzplatten, Fenstergittern und Plastikplanen gebaut. In der Mitte steht ein Tisch aus hüfthohen Holzkabelrollen, drum herum verschlissene Autositze, ein durchgesessenes Sofa und ein breites Bett mit Moskitonetz. "Niemand hier schläft im Sommer im Wohnwagen.

Die speichern die Hitze", erklärt Robi. Sie zeigt auf einen Schlauch über dem Bett. Er führt von einem Wassertank neben dem Verschlag zum Plastikspülbecken am anderen Ende des Raums. "Unser Spülwasser läuft in einen Eimer. Von dort kommt es zum Kompost aus menschlichem Dünger." Menschlicher Dünger? Na klar - Robi und Marty haben ein Plumpsklo. Was sie dort sammeln, mischen sie mit Blütenresten, Laub und Schmutzwasser und gießen damit die wenigen Büsche auf ihrem Stellplatz.

Schwierige Lebenswege

Durch den "Great Room" zieht eine leichte Brise. Robi füllt zwei Becher mit Wasser, setzt sich auf einen der Autositze und erzählt. Bis vor zwei Jahren lebte die ehemalige Angestellte einer Fluggesellschaft mit ihrem Sohn in einer Zweizimmerwohnung in den Hügeln von Silicon Valley. Nach einer Verletzung am Arbeitsplatz klagte sie erfolglos auf Sozialhilfe wegen Arbeitsunfähigkeit. Immobilien, in die sie investiert hatte, wurden zwangsversteigert.

Es folgten niederschmetternde persönliche Verluste: Ein Jahr nachdem der Vater starb, nahm sich ihr Bruder das Leben. Als kurz darauf ihr Sohn auszog, überkam Robi ein starkes Bedürfnis nach Unabhängigkeit. "Ich hatte das Gefühl, keinerlei Kontrolle über mein Leben zu haben. Miete, Strom, Wasser, Bankgebühren - ich war allen ausgeliefert und dachte: Ich hab die Schnauze voll!" Sie verscherbelte ihr Hab und Gut bis auf das Nötigste, kaufte einen gebrauchten Wohnwagen, zog los und blieb in Slab City hängen.

Im Winter steigt die Zahl der Bewohner der Siedlung auf über zweitausend. Die meisten sind sogenannte Snowbirds - Rentner, die in gut ausgerüsteten Campingwagen aus kalten Regionen nach Kalifornien strömen. Bevor im Mai die Tagestemperaturen auf 45 Grad steigen, ziehen diese Zugvögel weiter. Zurück bleiben Aussteiger, die mietfrei ohne Stress und Regeln der Konsumgesellschaft leben wollen, und Ausgestoßene, die nicht wissen, wo sie sonst unterkommen könnten. Robi erzählt, dass Neuankömmlinge schnell ihr eigenes Lager aufschlagen müssen. "Die Menschen hier erwarten von dir, dass du dich um dich selbst kümmerst. Es ist nicht so, dass wir nicht helfen möchten, aber wir haben selbst nur begrenzte Mittel."

Und was passiert, wenn in Slab City jemand krank wird? Robi weicht aus. Wenn jemand zum Arzt muss, finde sich immer ein Weg, das zu organisieren. "Die meisten hier wollen das aber gar nicht und schon gar nicht ins Krankenhaus. Sie fürchten, da nie wieder rauszukommen."

Ich breche auf, um den Campingplatz zu erforschen. Im Schritttempo holpere ich über staubige Schotterwege durch die Siedlung: streunende Hunde, ausgetrocknete Dornenbüsche, Trümmerhaufen aus verrosteten Autoteilen, ausrangierten Sesseln und nicht identifizierbarem Sperrmüll. Mehrmals steige ich vor Wohnwagen, bunt bemalten Bussen, Zeltkonstruktionen und Bretterverschlägen aus, mache mich durch Winken und Rufen bemerkbar. Schatten bewegen sich hinter fadenscheinigen Gardinen. Keine Tür geht auf. Ich registriere, dass mein Handy kein Signal empfängt.

Die Künstlerkolonie

Im Schutz meines klimatisierten Autos fahre ich weiter, vorbei an einem Wohnwagen ohne Räder mit der Aufschrift "Bar Oasis" und einem Wellblech-Holzverschlag mit dem im Wind quietschenden Schild "Internet-Cafe". An einem Holzbrett im Sand mit der Aufschrift "Klapperschlangenweg" biege ich ab und lande an einem runden Torbogen aus gebogenen Stahlstreben und sich im Wind drehenden Fahrradfelgen. Ich bin bei der Künstlerkolonie von Slab City gelandet: East Jesus.

Installationen ragen in den wolkenlosen Himmel: ein fünf Meter hohes Mammut aus zerrissenen Autoreifen, Gerüste aus Holz und Metall, ein halb im Sand versenkter Bus, Autos verziert mit Tierknochen, Puppenköpfen, Lichterketten, Patronenhülsen und Computerzubehör. Autofelgen und Glassplitter reflektieren das Abendlicht.

Eine knochige Gestalt mit zerquetschtem Zylinder auf dem Kopf und in zerschlissenen Klamotten kommt auf mich zu: Flip Cassidy, Bildhauer, Fotograf und Musiker. Ich erzähle ihm von meiner Suche nach Utopia. "Ist Slab City so ein Ort?" Flip wiegt nachdenklich den Kopf. Es sei falsch, den angeblich "letzten freien Ort Amerikas" zu romantisieren. Er erzählt von Menschen- und Waffenschmugglern, von Drogenlaboren und Messerstechereien. Andererseits - wo sonst könnte Flip seinen Turm aus Fernsehern bauen, deren Bildschirme er mit konsumkritischen Botschaften zumalt? "Die Installation ist ungeheuer verschraubt und verstärkt. Kunst muss hier draußen den Elementen standhalten bei gnadenlosem Wind mit 60 Stundenkilometern und stärker!"

Die untergehende Sonne taucht Skulpturen und Wüste in weiches Orange. "Zeit für einen Drink und Musik", sagt Flip und führt mich zum mit Teppichen ausgelegten Musikraum aus Holz- und Wellblech. Er greift zum Banjo, ein schlaksiger Zweimetermann setzt sich ans Piano. Bewohner und Gäste der Künstlergemeinschaft kommen dazu. Ein Joint wird herumgereicht. Flip singt mit Reibeisenstimme von Unheil, Whiskey, Pistolen und Liebe. "Wir kommen nach East Jesus, um nachzudenken und kreativ zu sein", sagt Pianist Chris. Wie die anderen hat er Bleibe und Job anderswo. "Das unterscheidet uns von den meisten Slabbern auf der anderen Seite. Für die ist das hier Endstation." Flip schaltet sich ins Gespräch ein. Slab City sei zumindest eine Gegengesellschaft. "Kostenloses Wohnen - wo gibts denn so was?"

Inzwischen ist es stockdunkel. Skulpturengarten, Flaschenwand und Musikraum verwandeln sich dank Sonnenenergie zu einer Lichtinstallation umgeben von totaler Finsternis, überdacht vom funkelnden Sternenhimmel. Flip lädt mich ein, in East Jesus zu übernachten. Ich fahre erst mal zurück zu Robi und Marty. Die reparieren mit einem Riesenhammer die Anhängerkupplung eines Wohnmobils. Sie wollen damit zu Martys Tochter nach Iowa fahren. Robi freut sich auf kühlere Temperaturen und Abwechslung.

Was fehlt ihr am meisten in der Wüste? "Eine kalte Dusche! Und saubere Fingernägel! Und mein Sohn. Dass ich nicht mehr weiß, welche Musik er hört. Es kann hier sehr einsam werden." Der Sohn hat geweint, als er sie das erste Mal besuchte. Inzwischen finde er es cool, wie unabhängig sie existieren kann. "Du solltest einen Vollmond hier erleben!", sagt Robi nach einer längeren Pause. "Es gibt magische Nächte in der Wüste." Ich schaue nach oben und beschließe: Die Einladung, im Wohnzimmer von East Jesus auf der Couch mit freiem Blick zum Sternenhimmel zu übernachten, nehme ich sehr gerne an.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.