Ausstellung zu Frankensteins Monster: Unheimliche Produktivkräfte

Ein Albtraum nach einem dunklen Sommertag: Vor 200 Jahren wurde die Idee zum Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ geboren.

Das Monster tötet Frankensteins kleinen Bruder. Ausschnitt einer Chromolitographie von 1826 Illustration: Fondation Bodmer

Im Sommer 1816 schneit es in der Schweiz. Noch im August liegt Schnee in den Ausläufern des Jura, und die Kartoffeln sind auf die Größe von Walnüssen geschrumpft. Die Landbevölkerung in Süd- und Mitteleuropa leidet unter einer extremen Hungersnot, und die Sterblichkeitsrate steigt rapide.

Europa im Jahr eins nach dem Wiener Kongress soll sich als „Jahr ohne Sommer“ in die Annalen der frisch restaurierten Königreiche und Herzogtümer einschreiben, und in der Schweiz herrscht ein klimatischer Ausnahmezustand, der alle langfristigen Zyklen und mittelfristigen Entscheidungsprozesse zu durchkreuzen scheint. Der Rhein und die Rhône treten mitten im Sommer über die Ufer, ganze Regionen stehen unter Wasser, und nur die Apokalytiker feiern mit frisch aufgelegten Manifesten fröhliche Konjunktur.

Was wie die Ankündigung eines nahen Weltuntergangs über Europa kam, war das Resultat einer lokalen geologischen Katastrophe am anderen Ende der Welt, die im Verlauf eines Jahres ihre globalen klimatischen Auswirkungen zeigen sollte: der Ausbruch des Tambora vor Java im April 1815. Die weitaus größte Eruption der Erde seit über 20.000 Jahren kostete zigtausende Menschen in Indonesien das Leben und färbte noch ein Jahr später den Schnee über Genf aschbraun.

Auch den kleinen, renommierten Zirkel englischer Intellektueller um Lord Byron, der sich in diesen verregneten Sommermonaten 1816 am linken Ufer des Genfer Sees niederließ, lässt das Katastrophenjahr nicht kalt. Byrons Totengesang „Darkness“ wird zum traurigen Popsong des Sommers: „I had a dream, which was not all a dream. The bright sun was extinguish’d, and the stars did wander darkling in the eternal space.“

Hungersnöte in der Nebenrolle

In der Genfer Villa Diodati, in der man sich regelmäßig trifft, spielen die Hungersnöte rundherum trotzdem eine Nebenrolle. Es waren philosophische und politische Diskussionen sowie ein eher komplexes Liebesleben, das die angelsächsischen Romantiker um ihren Großmeister Byron und seinen Leibarzt John Polidori umtrieb. Im Besonderen die Neuankömmlinge Percy Shelley und die 19-jährige Mary Godwin – die künftige Mary Shelley – freuten sich über ihre neuen Freiheiten und offenen Diskussionen im liberalen Stadtstaat Genf.

Anders als nach dem Erdbeben von Lissabon – 60 Jahre zuvor – aber ist in diesen Gesprächen hier nun keine Rede mehr von der „besten aller möglichen Welten“ und von ihren Katastrophen. Während sich die Denker der französischen Aufklärung Voltaire und Rousseau noch an den großen religionsphilosophischen Fragen von Schöpfung und göttlicher Vorbestimmung rieben, wird im Genf des frühen 19. Jahrhunderts lieber darüber nachgedacht, wie man die Schöpfung endlich selbst in die Hände nehmen kann.

Zwischen der europäischen Naturkatastrophe von 1755 und der globalen Klimakatastrophe von 1815 vollzieht sich nicht zuletzt innerhalb der literarischen Intelligenzija jener Mentalitätswandel, der Europa quasi ins neue geologische Zeitalter des Anthropozän katapultiert. Ein drittes Mal zumindest will man sich von den tellurischen Kräften nun nicht mehr das Heft des Handelns aus den Händen nehmen lassen. Der erste Held dieses neuen gesellschaftlichen Imaginären aber wird eine traurige, sensible Kreatur aus der Retorte sein, die von der Gesellschaft ausgestoßen zum Monster wird – wohl nicht zufällig das genaue Gegenbild zum „Émile“ Jean-Jacques Rousseaus.

Die Großdichter Byron und Percy Shelley scheitern an der ­Gespenstergeschichte

Von all dem erzählt eine ziemlich erlesene Ausstellung in der Genfer Martin-Bodmer-Stiftung: der Bibliotheca Bodmeriana – nur wenige hundert Meter entfernt vom einstigen Treffpunkt der englischen Romantiker in der Villa Diodati: „Frankenstein, créé des ténèbres“, Frankenstein, Geschöpf der Dunkelheit. Ein Thema mit thrill und lokalem Kolorit; Dr. Viktor Frankenstein ist wie auch Rousseau ein stolzer Bürger, geboren als Sohn einer vornehmen Familie der Stadt Genf.

Doch wie in der Schweiz üblich, kommt die Ausstellung eher unaufgeregt daher. Die Erzählungen von Naturkatastrophe, Zeitenwandel und säkulare Menschenproduktion sind in den unterirdischen Katakomben des nüchternen Mario-Botta-Baus über dem Lac Léman in den Kontext der Ewigkeit gestellt. Bodmers Privatsammlung mit ihren über 150.000 Schriften hat sich der Bewahrung der Weltliteratur verschrieben und hat als Privatsammlung seit einem Jahr den Status eines Unesco-Weltdokumenten-Erbes inne. Man befindet sich hier also vergleichsweise eher im Literaturarchiv Marbach als am schrillen Medienstandort Karlsruhe.

Mythen des 20. Jahrhunderts

So sind es denn vor allem Autografen und Erstausgaben, Gemälde und Zeichnungen, die zwischen Gutenberg-Bibeln, einer Ilias-Handschrift aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. und Kafka-Covern ausgestellt sind, um der Erfindung einer der wichtigsten Mythen des 20. Jahrhunderts zu huldigen: dem Roman von Doktor Viktor Frankenstein und seiner monströsen Kreatur, der hier in Genf in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1816 als Idee seinen Anfang nahm.

Nach Mary Shelleys späteren Erinnerungen in ihrem Vorwort zu „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ war die „unglückselige Gespenstergeschichte“ um Dr. Frankenstein und seines Homunkulus eher dem Zufall geschuldet: entsprungen der spontanen Laune Byrons und einem kleinen literarischen Wettbewerb um die beste Gruselstory des Abends unter den Freunden in der Villa Diodati. „Oft und lange diskutierten Lord Byron und Shelley, während ich als bescheidene, aber aufmerksame Zuhörerin dabeisaß. Eine der philosophischen Hauptfragen, die diskutiert wurden, war die nach dem Ursprung des Lebens. Vielleicht wäre es denkbar, einen Leichnam wieder zu beleben, was ja auf galvanischem Wege bereits geschehen ist, oder die Bestandteile eines Lebewesens zusammenzufügen und ihm lebendigen Odem einzuhauchen?“

Frankensteins Monster sitzt gefesselt auf einem Stuhl

Schreckliche Erfindung: Frankensteins Monster machte auch im Kino Karriere Foto: imago/AD

Die wilden Albträume einer jungen Frau in der darauf folgenden Nacht tun das Ihre hinzu. So vermischen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts letzte Diskursreste von weiblicher Passivität mit einer neuen literarischen Fabulationskraft und den spekulativen Experimenten einer Jahrhundertwende, die ihren Glauben an übernatürliche Kräfte ad acta gelegt hat. Wenn Shelley ihren Dr. Frankenstein und seinen Dämon quer durch Europa jagt, dann ähnelt diese wilde Reise nicht nur ihrer eigenen touristischen Umtriebigkeit, sondern erinnert zugleich an die theatralen Europatourneen des Galvani-Neffen Giovanni Aldini, der vor staunendem Publikum abgehauene Büffelschädel und guillotinierte Delinquentenkörper in Zuckungen versetzt.

Nachahmungen, Verschiebungen und Verdichtungen

Lauter Körperwelten – vermengt mit einem neuzeitlichen Animismus, der totem Material und einem in Nationen zerfallenden Europa ein letztes Mal Leben einhaucht. Im neuen Leitmedium der Massenliteratur entfalten bioelektrische Phantastereien und magnetistische Spekulationen eine Produktivkraft, die mit ihren unzähligen Nachahmungen, Verschiebungen und Verdichtungen der menschengemachten Kreatur bis heute unsere Welt bevölkert.

Während die Großdichter Byron und Percy Shelley an der selbstgestellten Aufgabe einer „Gespenstergeschichte nach deutschem Vorbild“ kläglich scheitern, schafft Mary Shelley aus ihren Albträumen literarische Realität.

„Frankenstein, créé des ténèbres“. Fondation Martin Bodmer, Route Martin Bodmer 19–21, Cologny (Genf). Bis 9. Oktober

In der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1816 – vor 200 Jahren – nehmen nicht nur Mary Shelleys Homunkulus „Frankenstein“, sondern mit John Polidoris „Vampyre“ gleich noch eine zweite emblematische Figur des neuen Zeitalters Gestalt an. Noch 20 Jahre später erinnert sich Mary Shelley an diese Ursprungsakte eines neuen literarischen Zeitalters: „Die Idee hatte mich derart gefangen genommen, dass es mich eiskalt überlief und ich vergebens mich bemühte, das gespenstische Bild meiner Phantasie wieder mit der Wirklichkeit einzutauschen. Ich wusste, dass draußen spiegelglatt der See lag und die Alpen ihre Häupter starr zum Himmel erhoben; aber trotzdem konnte ich meines Phantasiegebildes nicht ledig werden. Wie ein Licht flammte es in mir auf. Was mich erschreckte, sollte auch andere erschrecken. Ich habe nur den unheimlichen Halbtraum jener Nacht zu beschreiben.“

Mary Shelley sollte recht behalten. Während Galvanismus und Mesmerismus als wissenschaftliche Modeerscheinungen bald in Vergessenheit geraten, übersteht ihre literarische Verarbeitung über dem Genfer See noch den Medienwechsel von der Literatur zur neuen Leitkultur des Films zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dem Animismus der laufenden Bilder liefern die Frankensteins, Draculas und Aliens dieser Tage ihren epischen und visionären Grundstoff.

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