Australien entschuldigt sich: Albtraum der Aborigines

Zwischen 1900 und 1973 entriss die australische Regierung 100.000 Aborigine-Kinder ihren Eltern. Die kulturelle Entwurzelung wirkt sich bis heute aus.

Die Aborigines mussten lange auf die Entschuldigung der australischen Regierung warten. Bild: reuters

SYDNEY taz Im Hintergrund strahlt das weiße Segeldach des Opernhauses von Sydney im Glanz der Nachmittagssonne. Davor sitzt Mary Hooker und erzählt ein brutales Kapitel der australischen Geschichte. Es war im Frühjahr 1970, Mary Hooker war gerade 12 Jahre alt, als eines Morgens ein Polizeiauto vor der Schule ihrer Ureinwohnersiedlung hielt. "Sieben meiner Geschwister saßen bereits im Wagen. Die Beamten sagten, wir würden unsere Mutter im Krankenhaus besuchen gehen", erinnert sich die heute 50-Jährige. Stattdessen fuhren die Polizisten die Kinder zum Gericht. Dort entzog man den Eltern das Sorgerecht - in Abwesenheit. Offizieller Grund: "Vernachlässigung der Aufsichtspflicht".

"Ich saß nur da und verstand überhaupt nichts", sagt Hooker heute. Die Beamten waren freundlich. "Jetzt dürft ihr zwei Wochen in die Ferien." In Wahrheit fuhren die Kinder nach Sydney, von wo aus sie in verschiedene Heime gebracht wurden. Aus zwei Wochen Urlaub wurden sechs Jahre Albtraum.

Mary Hooker ist eines von zehntausenden Mitgliedern der sogenannten Gestohlenen Generationen Australiens. Die Ureinwohner sind Opfer einer Politik verschiedener australischer Regierungen, die von 1900 bis etwa 1973 zur Zersplitterung unzähliger Familien geführt hat. Mindestens 100.000 Kinder der heute knapp 500.000 zählenden Ureinwohner, der Aborigines, wurden von ihren Eltern entfernt. So steht es in der Studie "Bringt sie nach Hause" der australischen Menschenrechtskommission (1997). Die Kinderdiebstahlspolitik hatte offiziell den Namen "Wohlfahrtssystem für Ureinwohner". Sie endete erst in den 1970er-Jahren, als Australien den Aborigines zögerlich Rechte einräumte.

Dennoch leiden noch heute zehntausende von indigenen Australiern unter den Folgen - als Betroffene oder Nachkommen von Opfern. Depressionen, Identitätsprobleme, soziale Verwahrlosung und Selbstmorde sind unter den Mitgliedern der Gestohlenen Generationen weit verbreitet. Das sind die Folgen einer systematischen Entwurzelung durch den Staat. Manchmal stimmten die Ureinwohnereltern auch zu - weil sie sich nicht in der Lage fühlten, für ihre Kinder zu sorgen. Meist aber wurden die Kinder mit Zwang von den Eltern getrennt. Oft waren die Kirchen involviert - als Betreiberinnen der Schulen und Heime, in denen die Kinder untergebracht wurden.

100 Jahre nach der Invasion des Kontinents durch britische Strafgefangene und Siedler gab es damals eine grausame ideologische Grundlage für diese Politik. Die Weißen waren der Ansicht, die durch Verfolgung, Mord und Vergewaltigung bereits dezimierten Ureinwohner Australiens hätten als Rasse keine Überlebenschance. Vollblut-Aborigines galten als "Steinzeitmenschen" und zum Aussterben verurteilt. So konzentrierte sich die Regierung auf die "Rettung" von Mischlingskindern. Sie wollte mit deren forcierten Einfügung in die weiße Gesellschaft die "Aboriginalität" von Generation zu Generation reduzieren - und schließlich ganz ausradieren. "Auszüchten" hieß das in damaliger Terminologie. A. O. Neville, Chef der Aborigines-Aufsichtbehörde in Westaustralien, prophezeite 1937: "In 100 Jahren wird der reinrassige Schwarze ausgestorben sein - aber das Problem der Halbblüter nimmt mit jedem Jahr zu." Deshalb sei es notwendig, die "Vollblut-Aborigines" zu separieren und "die Mischlinge in die weiße Bevölkerung zu absorbieren". Neville war, wie viele seiner Zeitgenossen, der festen Überzeugung, die Praxis diene der Wohlfahrt der Kinder.

Sorge um die Wohlfahrt der Kinder - für Mary Hooker tönt dieses Argument wie blanker Hohn. "Die wussten ganz genau, was in diesen Heimen vor sich geht. Zu Hause bin ich jedenfalls nie missbraucht worden", sagt sie. Getrennt vom Rest der Familie, isoliert von ihren Eltern, wurden das Mädchen und seine ein Jahr jüngere Schwester nach ein paar Monaten von Sydney in eine Kleinstadt gebracht. In einem Kinderheim, in dem sie die einzigen Farbigen unter 20 Mädchen waren, begann, was tausende ihrer Leidensgenossinnen erfahren mussten. "Am Abend kam der Hausvater zum 'Gute-Nacht-Sagen'. Erst deckte er mich zu, dann vergewaltigte er mich. Wenn ich mich wehrte, gab es Prügel."

Der Aufenthalt im Heim war begleitet von brutalen Bestrafungsmethoden, vor allem nach Fluchtversuchen. "Er sperrte mich Tage lang in Isolationshaft, wo er jederzeit Zugang zu mir hatte", sagt Hooker. Essensentzug war eine weitere Methode, mit dem der Willen der Kinder gebrochen werden sollte. Für Mary Hooker aber war die soziale Isolation fast die schlimmste Strafe. Wenn sie aß, musste sie sich mit dem Rücken zu den weißen Mädchen setzen. "Ich war zwar anwesend, aber niemand durfte mit mir sprechen oder auch nur meine Präsenz anerkennen."

Während der Heimleiter den Mädchen das Leben zur Hölle machte, führte er nach außen ein biederes Leben mit Frau und zwei Kindern. Mary Hooker fällt das Erzählen ihrer Geschichte auch nach all den Jahren nicht leicht. Ihre Stimme stockt, als sie sich an das nächste Heim erinnert, eines für "schwierige" Kinder. "Die fünf Heimleiter lösten sich ab. Jeder von ihnen vergewaltigte uns - je nachdem, wer gerade Schicht hatte." Die sexuellen Verbrechen hatten oft Folgen: Mädchen wurden schwanger. "Einige meiner Freundinnen hatten Kinder", berichtet Hooker. "Doch die Babys wurden sofort nach der Geburt entfernt und zur Adoption freigegeben. Sie hatten nicht einmal einen Namen."

Die 50-jährige Hooker ist eine der vielen Zeuginnen, die vor zehn Jahren ihre Geschichte der Untersuchungskommission zu Protokoll gegeben haben. Die meisten erzählen dasselbe: Die "Absorbierung" in die weiße Gesellschaft bedeutete in der Realität ein Leben als billige Dienstbotin in Nobelhaushalten. Nach Aufenthalten in verschiedenen Heimen wurde auch Hooker Dienstmädchen im Haus einer weißen Familie in einem Edelquartier von Sydney. "Ich war erst 14 und musste von morgens sechs Uhr bis abends um halb zwölf arbeiten." Als sie von Ausbeutung und Missbrauch genug hatte, rannte sie davon. Sie ist beschämt, als sie erzählt, wie sie als Prostituierte im Rotlichtquartier von Sydney endete. Nur der Hilfe eines Straßenpriesters ist es zu verdanken, dass sie überlebte - und der Erkenntnis, "dass ich nur mittels Ausbildung einen Ausweg aus diesem Leben finde". Inzwischen 18 Jahre alt, ließ sie sich zur Sekretärin ausbilden. Das brachte die Wende. Mary Hooker heiratete. Sie hat heute zwei Kinder und zwei Enkel.

Im Hintergrund gleitet eine Fähre durch den Hafen von Sydney, voll beladen mit Touristen. Mary Hooker schaut aus dem Fenster und schluchzt leise. Der Gedanke an die Vergangenheit bereitet ihr beinahe physische Schmerzen. Mit Tränen in den Augen sagt sie: "Man hat mir meine Jugend gestohlen, ich habe den Kontakt zu den Eltern verloren, man hat mir meine Geschichte als Ureinwohnerin geraubt. Als Christin muss ich meinen Feinden vergeben. Vergessen jedoch kann ich nicht."

Für die Frau ist die Entschuldigung, die Premierminister Kevin Rudd am Mittwoch in Canberra aussprechen wird, mehr als nur ein Symbol, wie seine Kritiker meinen. "Zum ersten Mal in meinem Leben wird meine Geschichte offiziell bestätigt."

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