Autobiografie einer lettischen Jüdin: Wenn das Leben in Trümmern liegt

Valentīna Freimane schildert in „Adieu, Atlantis“ zwei Leben: ihre unbeschwerte Kindheit in Berlin und ihr Überleben im Holocaust.

Viele Granitgrabsteine gruppieren sich um eine weiße Stele

Jüdisches Ehrenmal auf dem Friedhof von Riga-Bikernieki, Lettland, das an den Holocaust erinnert. Foto: ap

Das Überleben der Verfolgten der Schoah wird in fast allen Autobiografien von Betroffenen als ein radikaler Schnitt beschrieben. Eine geordnete Welt mit Gesetzen und Paragrafen, einem liebevollen Elternhaus und stabilen Verhältnissen zerbrach innerhalb weniger Jahre, kulminierend in einem gnadenlosen Überlebenskampf, in dem vorherige Werte wie Gesetzestreue und Anstand häufig nur noch geringe bis gar keine Bedeutung mehr besaßen, wollte man sein Leben retten. Selten aber ist dieser Bruch bislang so intensiv beschrieben worden wie von Valentīna Freimane, deren Buch nun endlich auf Deutsch erschienen ist.

Das Mädchen aus wohlhabendem lettischen Elternhaus wächst in den 1920er und 1930er Jahren zwischen Riga, Paris und Berlin auf, behütet von Kindermädchen, umsorgt von den baltisch-jüdischen Eltern, angstfrei und immer neugierig auf die nächste Veränderung im Leben wartend. Der Vater arbeitet für die Ufa, und Freimane schildert aus ihrer Kinderperspektive, wie sich daheim Schauspieler und Schriftsteller die Klinke in die Hand geben. Und so taucht der Leser in eine untergegangene Welt ein: als der Stummfilm dem Ton wich und der Krieg in Europa weit weg schien. Armut, die kommt höchstens einmal in den Gesprächen der Erwachsenen vor, und Religion, die spielt kaum eine Rolle.

Auch die Familie Freimane muss sich dem wachsenden antisemitischen Druck in Hitlers Berlin beugen, verlässt Deutschland 1936 und zieht endgültig nach Riga um. Doch nirgends deutet sich dort die kommende Katastrophe an.

Der Schock beginnt nicht mit den Nazis, sondern der Roten Armee. 1940 okkupieren die Sowjets Riga, gemäß einem geheimen Zusatzprotokoll mit den Deutschen, das das Baltikum als sowjetische Einflusszone deklariert. Der Boden beginnt zu schwanken; Repressionen, Enteignungen und das Verschwinden von Menschen greifen um sich. Aber noch bleibt, trotz Einquartierung eines Majors der Roten Armee in der herrschaftlichen Wohnung, ein Rest bürgerlicher Existenz bestehen, wenn auch immer mehr als brüchige Fassade. Bis zum Einmarsch der Wehrmacht im Juni 1941.

Nichts als das nackte Leben

Eindringlich schildert Freimane die Begeisterung vieler Letten für den Hass gegen die Juden – etwa wie lettische Hilfspolizisten begierig die Wohnung stürmen und zu stehlen beginnen. Dass es auch das andere, mutige Lettland gab, dass Menschen unter Einsatz ihres Lebens Juden halfen, davon legt Freimanes Buch Zeugnis ab.

Die junge Frau Valentīna entkommt dem Ghetto und den Deportationen, weil ihre Helfer sie rechtzeitig verstecken. Doch alles andere, was einmal ein Leben bedeutete, wird von den Nazis vernichtet, die Eltern und der Ehemann werden ins Ghetto gesperrt und ermordet. Von der vormals großbürgerlichen Existenz bleibt nichts als das nackte Leben.

Valentīna Freimanes Schilderung ist bedrückend präzise und spart keine Details aus. Der deutsche Leser erhält mit diesem Buch endlich die Möglichkeit, jenseits der Fachliteratur einen furchtbaren Einblick nehmen zu können in die Verfolgung und Ermordung der lettischen Juden – und in eine verschwundene Welt vor Beginn der NS-Herrschaft.

Bedauerlich ist nur, dass Freimane ihre bewegende Autobiografie nach der Eroberung Lettlands durch die Rote Armee 1944 nicht fortgesetzt hat – denn diese Befreiung, ahnt der Leser, war nicht gleichbedeutend mit der Freiheit.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.