Aztekenschau in Stuttgart: Die Opferkisten der Mexica

Spektakuläre Grabungsfunde skizzieren das komplexe Gesellschaftsgefüge der mexikanischen Hochkultur – vor dem Einfall der Spanier.

Eine Archäologin bei der Freilegung der monolithischen Stein in Mexiko-Stadtskulptur der Göttin Tlaltecuhtli

Göttin Tlaltecuhtli Foto: © Proyecto Templo Mayor, Leonardo López Luján

Als Hernán Cortés mit seinen Verbündeten Technochtitlán 1521 einnahm, ließ er sämtliche Schriften der Azteken vernichten und das religiöse und politische Zentrum der damaligen Inselstadt niederreißen. Auf den Trümmern errichteten die Spanier bald Kathedrale, Nationalpalast und Exerzierplatz – den Zócalo der heutigen Megacity Mexiko. Nur äußerst mühsam lässt sich die Geschichte der Azteken oder Mexica, wie sie sich nannten, anhand der verbliebenen Quellen rekonstruieren. Dazu werden Informationen aus den wenigen präkolumbianischen Aufzeichnungen – den Codices, den spanischer Chroniken und Praktiken der indigenen Kultur – mit der Archäologie abgeglichen.

500 Jahre nach der Landung Cortés’ in Mexiko präsentiert das Stuttgarter Lindenmuseum nun in einer großen Landesausstellung neueste Ausgrabungs- und Forschungsergebnisse sowie seltene Artefakte aus mexikanischen und europäischen Sammlungsbeständen. Sie ermöglichen einen umfassenden Blick auf das ehemals mächtige aztekische Imperium, seine Vorstellungs- und Lebenswelt.

Heute befinden sich im historischen Zentrum von Mexiko City, verborgen unter Schichten moderner und kolonialer Bebauung, noch immer die Überreste der präkolonialen Stadt und des Herrscherpalastes Moctezumas II. und Cuauhtémocs. Erst kürzlich bezog der seit Dezember 2018 amtierende Präsident López Obrador an dieser Stelle eine Wohnung im Palacio Nacional. Nach 135 Jahren ist der für sein populistisches Auftreten bekannte Präsident das erste mexikanische Staatsoberhaupt, das an diesem geschichtsträchtigen Ort wieder residiert.

"Azteken", Landesausstellung Baden-Württenberg, Linden-Museum Stuttgart, 12.10.2019 bis 3.5.2020

www.lindenmuseum.de

Einen Steinwurf davon entfernt befindet sich die Ausgrabungsstätte „Templo Mayor“ sowie das gleichnamige archäologische Museum. Seit 1978 werden hier im Umfeld der ehemals 45 Meter hohen Pyramide systematisch Grabungsprojekte durchgeführt. Inzwischen konnten mehrere Generationen von Archäologen etwa zehn Prozent der Fläche im „Heiligen Bezirk“ Technochtitláns sichten. Und das ist nur ein Bruchteil der auf dem damaligen Texcoco-See 1325 n. Chr. gegründeten Stadt.

Rätselhafte Opferkisten

Bereits vor fünfhundert Jahren zählte diese 200.000 Einwohner*innen. Bei ihrer Ankunft überwältigte die Spanier das geschäftige Treiben und die hochwertigen Waren auf den Märkten der Metropole in der mexikanischen Hochebene.

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Besonders erschwert wird die Suche nach archäologischen Fundstücken in der heutigen 24-Millionen-Einwohner-Stadt durch die lückenlose Bebauung sowie den dichten Verkehr. Aber auch durch unterirdische Leitungs- und Kanalsysteme. Hinter einer unscheinbaren Metalltür an der Straßenecke República de Guatemala geht es über provisorische Stiegen tief nach unten zu den aktuellen Grabungen des staatlichen „Instituto Nacional de Antropología e Historía“ (INAH).

2006 entdeckte hier der Archäologe Leopoldo López Luján eine spektakuläre, etwa 4 mal 4 Meter große Reliefplatte mit der Mensch-Tier-Gestalt der Göttin Tlaltecuhtli, die inzwischen im Museo Templo Mayor ausgestellt wird. Vor Ort weist López Luján auf kleinere, rechteckige Vertiefungen rechts und links der Fundstätte. Dort fanden er und sein Team zwei Opferkisten, sogenannte Ofrendas. Die waren nach dem Dualitätsprinzip der Azteken den Elementen Erde oder Luft zugeordnet und mit unterschiedlichen Gaben gefüllt – Jade, Muscheln, Gold, Obsidian, Kopal-Harz, Werkzeuge, Tieropfer.

Tribute und Menschenopfer

Der reiche Informationsgehalt solcher Boxen wurde erst mit neuen Analyseverfahren in den vergangenen Jahren umfassend deutlich. So berichtet der 55-jährige Archäologe, wie sie durch die Auswertung der Ofrendas präzise Aussagen über Expansion und Aufstieg der aztekischen Herrschaft treffen konnten. Es zeigte sich, dass die verschiedenen Opfergaben am Fuße der sieben übereinandergeschichteten Pyramiden, in zeitlichen Abständen hinterlegt, von innen nach außen kostbarer wurden und aus entfernteren Regionen stammten. Eine der erst kürzlich entdeckten Ofrendas wird nun erstmalig in der Azteken-Ausstellung in Stuttgart zu sehen sein.

Sie stießen auf das Fundament eines aus menschlichen Schädeln konstruierten Turms

Der wachsende Reichtum der Gesellschaft Technochtitláns beruhte zum einen auf Landwirtschaft und zum anderen auf Krieg. Vor allem Mais, Kürbis und Bohnen wurden auf fruchtbaren Chinampas, den künstlich angelegten Inseln auf dem Texcoco-See, angebaut. Auf der anderen Seite drangen aztekische Krieger konsequent in feindliche Gebiete vor, um von den Besiegten hohe Tribute einzufordern. Doch nicht nur kostbare Quezalfedern aus Guatemala, gewebte Baumwollstoffe, Kakao oder Mais dienten als Tribute, sondern auch Kriegsgefangene – Männer, Frauen und Kinder.

Nur einige Meter weiter in der Calle República de Guatemala Nr. 24, machte Raúl Barrera, der Leiter des Programms für städtische Archäologie, 2015 während einer Notgrabung einen äußerst bedeutenden Fund. Im Zuge der Sanierung des Hauses stießen er und seine KollegInnen auf das Fundament eines aus menschlichen Schädeln konstruierten Turms. Dessen Höhe maß vermutlich einst vier bis fünf Meter.

Kriegsgott Huitzilopochtli

Dieser gemauerte Teil des „tzompantli“, einer größeren Opferstätte für den Kriegsgott Huitzilopochtli, war in den spanischen Chroniken bereits detailliert beschrieben worden, doch bislang hatte es keine faktischen Beweise für dessen Existenz gegeben.

Auch wenn die von den Eroberern genannten Zahlen der durchbohrten Schädel übertrieben sein mögen (sie sprachen von 136.000), geben doch die wenigen Überreste des freigelegten Turms schon einen Eindruck vom Umfang der getöteten Menschen. Trotzdem weicht Barrera vor Ort den Nachfragen nach genaueren Opferzahlen beharrlich aus. In Mexiko, wo allein in diesem Jahr zwischen Januar und August bereits 23.000 Morde gezählt wurden, scheint es offiziell nicht angezeigt, zu große Aufmerksamkeit auf dieses Kapitel der aztekischen Vergangenheit zu lenken.

Dazu ergänzt Inés de Castro, die Leiterin des Lindenmuseums, dass die Mexica eine Opfergesellschaft waren. In der Vorstellung der Azteken war die Verbindung zu den Göttern zentraler Bestandteil des Denkens. Leben und Tod wurden als Einheit verstanden. Im Einklang mit dem Kalender sollten regelmäßige Opfer die widersprüchlichen Gottheiten dazu bewegen, das Leben der Menschen positiv zu beeinflussen. Die wertvollsten Gaben waren Blut- und Menschenopfer, die in den Tempeln des sakralen Bezirks durch die Priester übergeben wurden.

Komplexe Kultur

Um differenzierte Einblicke in die komplexe Kultur der Mexica und deren Erforschung zu geben, haben sich die Ausstellungsmacher um Kuratorin Doris Kurella nach sorgfältiger Abwägung dazu entschieden, auch ein Exemplar eines deutlich perforierten menschlichen Schädels aus dem „Huei tzompantli“ in Stuttgart auszustellen.

Neben den außergewöhnlichen mexikanischen Leihgaben präsentiert das Lindenmuseum ebenfalls kaum bekannte Exponate europäischer Sammlungen aus Amsterdam, Basel, Gotha oder Wien. Im Zentrum der Stuttgarter Azteken-Ausstellung stehen so auch zwei äußerst seltene Federschilde, die sich im Bestand des Baden-Württembergischen Landesmuseums befinden.

Auf welchem Wege diese kostbaren Federarbeiten, die ursprünglich nur dem aztekischen Adel vorbehalten waren, nach Europa gelangten, ist nicht bekannt. Erstmals namentlich erwähnt werden sie 1599 in der Beschreibung eines Fastnachtsumzugs des württembergischen Herzogs Friedrich I.

Deutlich markiert die Ankunft Hernán Cortés’ 1519 den Beginn der Vermischung mesoamerikanischer und europäischer Kultur. Eine Inschrift in der Ausgrabungsstätte Tlatelolco erinnert an dieses widersprüchliche Ereignis und den letzten Widerstand des aztekischen Herrschers Cuauhtémocs im August 1521: „… Es war weder Sieg noch Niederlage. Es war die schmerzhafte Geburt des Volkes der Mestizen, des heutigen Mexiko.“

Zwar beherrschen nur noch 1,5 Millionen Me­xi­ka­ner*innen das aztekische Nahuatl. Doch sind viele Begriffe wie zum Beispiel elote (Mais), guajolote (Truthahn) oder chapulin (Heuschrecke) zum selbstverständlichen Vokabular des mexikanischen Spanisch geworden und auch die europäische Küche wäre ohne aztekische Importe wie Tomaten, Kakao oder Bohnen nicht denkbar.

Doch politische Bekenntnisse zu einer mexikanischen Kultur indigenen Ursprungs, wie sie der Künstler Diego Rivera als Auftragsarbeit in seinen weltberühmten Murales im Palacio Nacional am Zócalo inszenierte, bleiben angesichts der gesellschaftlichen Realitäten im Land bis heute ein abstraktes Konzept.

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