Bachmann-Preis für Tanja Maljartschuk: Klappe halten und nachdenken

Auf den Tagen der deutschsprachigen Literatur gab es neben Tanja Maljartschuk eine weitere Gewinnerin: die Sprache selbst.

Die PreisträgerInnen der 42. Tage der deutschsprachigen Literatur mit ihren Preisen

And the winner is… die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk und ihre Geschichte „Frösche im Meer“ Foto: dpa

Wir stehen bei den Verlassenen“, sagte der Schriftsteller Feridun Zaimoglu in seiner kämpferischen Eröffnungsrede und viele Beiträge beim diesjährigen Wettlesen in Klagenfurt haben es sich zur Aufgabe gemacht, Geschichte von solchen verlassenen Charakteren zu erzählen. Allen voran begeisterte Bachmannpreisträgerin Tanja Maljartschuk die Jury mit ihrer Geschichte „Frösche im Meer“, die von der eigenwilligen Beziehung einer dementen Frau und ihrem jungen Freund erzählt, der zwar keinen Pass mehr in der Tasche hat, dabei aber das Herz an der richtigen Stelle trägt. Lakonisch und humorvoll erzählt diese Autorin von Situationen, die doch so traurig sind. Nicht zuletzt beweist die Gewinnerin auch, dass es in der deutschsprachigen Literatur keine Grenzen mit Stacheldraht und keine Transitlager, sondern Aufnahmebereitschaft gibt, und dass am Ende alle davon profitieren.

Nach seiner Herkunft befragt, antwortete der Schriftsteller Bov Bjerg in einem Interview mit schelmischem Lächeln: „Ich komme aus dem Internet.“ Zum einen entzog sich Bjerg damit einer heimatlichen Verortung, zugleich aber distanzierte sich der Bestsellerautor („Auerhaus“) auch von jener Gegend, die ihn bis heute doch mehr zu beschäftigen scheint, als zunächst vermutet. Es ist sicher kein Zufall, dass der 1965 als Rolf Böttcher im schwäbischen Heiningen geborene Autor einen Künstlernamen annahm und sich damit nicht nur auf der literarischen Bühne eine neue Identität ausdachte. Wer seinen mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichneten Wettbewerbsbeitrag „Serpentinen“ nach dem ersten Hören noch einmal las, konnte neben der berührenden Vater-Sohn-Geschichte den Versteinerungen einer Figur nachspüren, die ohne Ausweispapiere in der süddeutschen Provinz sich zurechtfinden muss.

Die schöne und öde Schwäbische Alb, verschandelt von Großbauprojekten, gibt mit Orten wie Laichingen und Bergen wie den Galgenbuckel das Setting ab für den taumelnden Helden, der nicht weiß, ob er seinem Sohn erzählen soll, dass sich Urgroßvater, Großvater und Vater umgebracht haben. Ein gelungener Text, auch weil der Autor, von dem man einen eher lustigen Lesebühnenbeitrag erwartete, literarisches Gespür bewies für den Ernst der aktuellen Themenlage. Bjergs ausgefeilte Erzählung wäre mit Sicherheit auch für den Hauptpreis gut gewesen.

Eine wahre Entdeckung des Wettlesens

Geschichten vom Sterben wurden viele erzählt in Klagenfurt. Bei der jungen, aber resoluten Österreicherin Raphaela Edelbauer geht es gleich zu Beginn des Bewerbs in ein Bergwerk, das verfüllt werden soll, um den Einsturz eines Alpendorfs zu verhindern und um ein Erinnerungsloch zuzuschütten. Die schweigenden Dörfler wollen sich nicht länger an ein grauenhaftes Verbrechen erinnern, das an diesem Ort begangen wurde. Edelbauer erhielt den Publikumspreis, nachdem sie auch bei den Abstimmungen aller anderen Preise im Rennen war. Ihr Text ist die wahre Entdeckung des Wettlesens. Die 28-Jährige sollte in einigen Jahren noch mal antreten, um dann den Hauptpreis abzuräumen.

Auch Stephan Lohse, Schauspieler und spätberufener Schriftsteller, betrieb mit seinem Text literarische Erinnerungsarbeit, indem er zwei jugendliche Kiffer in der suburbanen Wildnis über die Ermordung eines Freiheitskämpfers im okkupierten Kongo und einem längst vergangenen, aber immer noch fortwährenden Freiheitskampf palavern lässt. Ein Beitrag, der zwar leer ausging, aber mit Sicherheit in Romanform noch weitere Aufmerksamkeit erhalten wird.

Die zwischen Solingen und Leipzig pendelnde Özlem Özgül Dündar gewann den Kelag-Preis mit einer rasanten Wehklage in mehreren Stimmen, gesetzt ohne Punkt und Komma, überschrieben mit „und ich brenne“. Mütter kämpfen darin um ihre Kinder und gegen das Feuer des Rassismus. Ein welthaltiger Text, wie Kritiker zu sagen pflegen, der aber in seiner sprachlichen Dringlichkeit zu überzeugen wusste.

Kein Mainstream in deutschsprachiger Literatur

Nicht nur die elegische Trauergeschichte „Warten auf Ava“ von Anna Stern (3sat-Preis), auch die popliterarischen Exerzitien von Joshua Groß in „Flexen in Miami“, die Austria-Dekonstruktion von Stephan Groetz­ner sowie die provokative, gerade in der Ausformulierung missglückte Geschichte einer Erotomanin von Corinna Sievers zeigten, dass es derzeit im Grunde keinen Mainstream, sondern vielmehr sehr divergierende Poetologien in der jungen deutschsprachigen Literatur gibt. Die Vielfalt drückte sich auch in den Jury-Kommentaren aus.

Von ihren Bewertungen erhielt man einen Überblick nicht nur von literaturwissenschaftlichen Schlagworten, sondern von einer textkritischen Diversity. Von gewollten Fehlern und Well-made-Erzählungen war die Rede, von Litanei und Parodie, von Montage und Collage, von Arrangements des Gefühls, von Rätseln und Mysterien, polierter Sprache und der fehlenden Radikalität, von überinstrumentierten und überfrachteten, aber auch zu schlichten Beiträgen, von einem Kammerspiel mit Regieanweisung und der Umkehrung einer Männerfantasie, von einem organischen Werk und von einer Parabel der Selbstauslöschung, von einer schönen Geschichte und von einer Migrationsgroteske, von rasanten Dialogen und motivisch zu dichten beziehungsweise inspirierend dichten Erzählschichten, vom Crescendo und Decrescendo in einer Erzählung, welche die Sprache selbst zum Hauptschauplatz macht.

Für Populisten, die Angst vorm Fremden haben

Es gehört zu den etwas lästigen Ritualen des Festivals, dass in den Nachbetrachtungen zum einen die Textauswahl, zum anderen die Arbeit der Jury ­kritisiert wird. Die Rollen waren dabei klar verteilt. Während Deutschlandfunk-Literaturredakteur Hubert Winkels wieder den altväterlichen Vorsitzenden gab, der seine Mitdiskutanten aus der Reserve zu locken und dann wieder miteinander ins Gespräch zu bringen vermochte, gab Neuling Insa Wilke mit fernseherfahrenem Charme die penible Analytikerin, zog die Schweizer Literaturprofessorin Hildegard Keller, die in der Vergangenheit gerne ihre Unentschiedenheit zur Schau stellte, dieses Mal deutlich Position, rumpelte, grummelte und jubelte ihr Grazer Kollege Klaus Kastberger weiterhin auf hohem Niveau, sagte der Literaturkritiker des Wiener Standard, Stefan Gmünder, wiederum kein Wort zu viel und vertrat auch dieses Mal Michael Wiederstein vom Literarischen Monat aus der Schweiz grundsätzlich und oft zu Recht eine konträre Meinung – nicht nur zur Überraschung des Publikums im Sendesaal des ORF.

Einzig die Lyrikerin und Literatur-Performerin Nora Gomringer, ebenfalls neu, wusste eher mit Sprüchen auf wechselnden T-Shirts zu überzeugen, allerdings gaben ihre authentisch wirkenden Interpretationsverweigerungen der angestrengten Diskussion eine angenehme Erdung.

Für jene Populisten, die nach Vereinheitlichung und Abwehr des Anderen schreien, wären die drei Tage Literatur und Kritik in Klagenfurt eine pädagogisch wertvolle Höchststrafe: Schickt sie an den Wörthersee zum Bachmannwettlesen. Auf dass sie im Publikum sitzen und – auch das gehört zum Regelwerk dieser Veranstaltung – stundenlang die Klappe halten müssen und über das nachdenken können, was ihnen so verhasst ist: das Fremde.

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