Ballerspiele: Schwere Geschütze

Je ähnlicher sich die Benutzeroberflächen von Waffen und Spielen sind, desto unklarer: Was ist Spiel, was Wirklichkeit?

Rattattataaa! Kurz vor dem Bildschirmmassaker Bild: DPA

Wer nach dem Massaker in Blacksburg im Internet nach aktuellen Meldungen suchte, wurde von Spiegel Online mitten ins Geschehen geworfen. Noch bevor der Täter ein Gesicht hatte, luden zwei interaktive Karten ein, seinen Weg über den Campus nachzuschreiten. Gleich daneben: Meldungen, die sich akribisch mit Tatwaffen und Munition befassten, mit Kaliber, Geschichte, Herkunft, Verbreitung, Einsatzgebieten, Durchschlagskraft. Wer mit der Welt taktischer Ego-Shooter vertraut war, fühlte sich spontan an die Einsatzplanung in Titeln wie "Tom Clancys Splinter Cell" erinnert.

Digitale Medien arbeiten mit zunehmend ähnlichen Oberflächen. Auch die Möglichkeiten zur Interaktion gleichen sich an. Dieser Wandel geht weit über die bekannten Namen Second Life und Counterstrike hinaus und provoziert die Frage: Wo, wenn nicht am Bildschirm, verläuft die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit, zwischen "virtuell" und "echt"? Wie Ed Halter, Autor der New Yorker Stadtzeitung Village Voice, in seinem Buch "From Sun Tzu to Xbox" zeigt, lässt sich diese Frage nirgends besser untersuchen als an der Geschichte der Kriegsspiele, die seit Jahrhunderten Kinder, Kriegsgegner und Kommandeure gleichermaßen faszinieren.

Von Schach bis Full Spectrum Warrior gab es zwar stets verschiedene Versionen für den Generalstab und fürs Kinderzimmer. Doch für beide gilt bis heute: Spieler wie Spielführer wollen so nah wie möglich ran an die Wirklichkeit, aber keinesfalls tatsächlich durchmachen, was sie gerade spielen. In kein anderes Genre flossen so viel Geld und Know-how, um eine Spielwelt bis ins Detail realistisch zu gestalten - und nirgendwo sonst kommen sich Spaß und tödlicher Ernst näher als in den Taktiksimulationen und Strategiespielen für Sesselkämpfer und Pentagon-Planer. Kino, Erlebnisparks, Forschungsinstitute und Computerindustrie profitieren von dieser Lust am Virtuellen letztlich mindestens in gleichem Maße wie das Militär.

Die Geschichte der Verflechtungen von Unterhaltungsindustrie, Wissenschaft und Kriegführung reicht von den ersten Spielfiguren der Ägypter bis zu Americas Army, einem Taktik-Shooter, den die US-Armee zur Jahrhundertwende als zeitgemäßes (gleichwohl nicht sonderlich erfolgreiches) Rekrutierungswerkzeug entwickeln ließ. Halter zeichnet nach, wie sich friedliche und militärische Kriegsspiele seit jeher wechselseitig befruchteten und wie sie ihre Spieler faszinierten und inspirierten. Möglich wird diese Wechselwirkung durch die Ähnlichkeit der Medien, die hier wie dort zur symbolischen Darstellung von Wirklichkeit dienten. Vom Schachbrett über die Zinnsoldaten der "Little Wars", mit denen Pazifisten wie H. G. Wells im Ersten Weltkrieg feuereifrig Schlachten inszenierten, bis hin zu den ersten Flugsimulatoren am PC - stets gab es ein Pendant, mit dem tatsächlich Feldzüge geplant und Kämpfer geschult wurden. "Nintendo-War" wurde der erste Golfkrieg in den USA genannt, dessen monochrome Videobilder aus den Gefechtsköpfen der "smart bombs" sich ins ikonografische Kollektivgedächtnis eingebrannt haben.

Dabei war die Videospielästhetik des Krieges nicht einmal neu. In Vietnam verkabelten die Amerikaner in der Operation "Igloo White" den gesamten Ho-Chi-Minh-Pfad mit Sensoren, um Geräusche, Bewegungen und Gerüche der Nordvietnamesen zu registrieren. Weit entfernt in Thailand saßen Soldaten vor einem Bildschirm und schickten Bomber los, wenn weiße Lichtspuren auf einer elektronischen Karte aufblinkten.

Je ähnlicher die Oberflächen werden, desto schwerer lässt sich die Unterscheidung zwischen Welten, in denen wirklich gespielt wird, und solchen, in denen das Spiel Wirklichkeit wird, an Inhalten oder der Qualität der Grafik festmachen. Was in Halters Geschichte des "Militainment-Komplex" als Unterschied hervortritt, ist die Welt hinter der Benutzeroberfläche. Hinter den Landkarten, Figuren, Regeln und Zügen der Letzteren liegt die tödliche Wirklichkeit. Welch vielfältige Bedeutungen dagegen ein gewaltsamer Akt im Computerspiel annehmen kann, zeigen Halters Beispiele von Ego-Shootern, die Künstler, Hacker, Rechtsradikale, patriotische Amerikaner und palästinensische Aktivisten mit höchst verschiedenen Aussagen verbinden. Gefragt ist also ein präziser und verständiger Blick auf die konkrete Nutzung der Spiele.

Wie erhellend diese Sichtweise sein kann, zeigt Mark Butler mit seinem Buch "Would you like to play a game? - Die Kultur des Computerspielens". Wie virtuelle Spiele wirken, so Butler, lässt sich nicht mit einem Blick über die Schulter eines Zockers beurteilen. Das Spiel steckt nicht in den Daten auf der Festplatte und auch nicht in den bewegten Bildern am Monitor. Rechner, Software und Spieler bilden eine Feedback-Schleife: Sie liefern sich gegenseitig Input und reagieren aufeinander. Das Spiel an sich existiert nur im Akt des Spielens.

Butler lüpft den Deckel dieses geschlossenen Kreislaufs, indem er die einzelnen Teile unter die Lupe nimmt: Was geht in den Köpfen der Spieler vor? Wie entsteht Immersion, das für Computerspiele typische Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen? Wie körperlich sind Körper in der Virtualität? Und wer ist überhaupt dieses Alter Ego, das in der anderen Realität Imperien baut, Monster killt oder als Hausfrau mit dem Masseur fremdgeht?

Auf der Suche nach Antworten hat Butler viel gelesen, über Cyborg-Fantasien und französische Psychoanalyse, von amerikanischen Techno-Theoretikern und deutschen Medienästheten - schwere Geschütze zwar. Doch was die kulturwissenschaftliche Durchdringung des Themas hierzulande angeht, herrscht an solchen Kalibern durchaus Mangel. Identität und Körperlichkeit, Zeit und Raum, Handeln und Wahrnehmung - Butler stellt eine Vielzahl an Konzepten vor, um zu klären, welche besondere Qualität diese Begriffe in der virtuellen Interaktion erhalten. In Berufung auf Letztere etwa beschreibt er den Raum des Computerspiels als "intermediären Raum", in dem man die "Kluft zwischen Ich und Welt" vergessen und seine schlimmsten Albträume symbolisch ausleben kann, ohne wirklich in Gefahr zu schweben.

Doch wie genau sieht dieses Ausleben von Fantasien und Urängsten aus? Stellenweise fühlt man sich etwas allein gelassen im Wald der Theorien und wünscht sich eine "Theory for Everything" für die Zwischenwelt der virtuellen Spiele. Doch an etwas Ähnlichem beißen sich die Physiker der Realität ja auch noch die Zähne aus.

Ed Halter: "From Sun Tzu to Xbox. War and Video Games". Thunders Mouth Press, New York 2006. 400 Seiten, 16,95 $ Mark Butler: "Would you like to play a game? Die Kultur des Computerspielens". Kadmos, Berlin 2006. 256 Seiten, 19,90 Euro

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