Bars, Bistros, Brasserien: Genf steht für stressfreien Fußball

In Genf trifft am Eröffnungstag der Fußball-Europameisterschaft Portugal auf die Türkei. Während der typische Genfer lieber segeln geht oder Tennis spielt, genießen die Portugiesen heimlichen Heimvorteil

Straßenbahn im EM-Outfit Bild: Jan Michael Ihl

Das "Stade de Genève" dürfte wohl das einzige Fußballstadion Europas sein, in dessen Umgebung wenige Wochen vor der Europameisterschaft nicht für braune Brause oder Gerstensaft geworben wird. Dafür hängen große Transparente der Vereinten Nationen über den Eingangsportalen. Genf ist neben New York, Wien und Nairobi eine der vier Städte, in denen die Vereinten Nationen ihren offiziellen Sitz haben. Fünf Minuten vom Hauptbahnhof, hinter einem bunten Flaggenmeer, residiert die UNO im Palais des Nations, dem Völkerbundpalast, der bis zur Auflösung des Völkerbundes 1946 Hauptsitz ebenjenes Vorläufers der Vereinten Nationen war.

Anreise: Genf liegt zwischen dem Jura-Gebirge und den französischen Alpen am äußerstem Südwestzipfel des Genfer Sees. Trotzdem kommt man aus Deutschland neben dem Flugzeug - Billig-Airlines fliegen ab Berlin und Hamburg - auch gut und klimafreundlich mit der Bahn nach Genf. Bis Basel fahren stündlich ICE-Züge. Von Basel nach Genf geht es mit dem Intercity in 2:45 Stunden.

Sprache: Genf liegt in der französischen Schweiz. Die meisten Publikationen zu Tourismus und Verkehr sind auch in deutscher Sprache erhältlich.

Unterkunft: Privatunterkünfte vermittelt sleep-in.ch. Auskunft über Hotels, Jugendherbergen, Camping und "Bed & Breakfast"-Angebote unter geneve2008.ch. Im Fan Village (Fancamp) kostet ein kleiner Zeltplatz für zwei Personen 18 Euro, ein Schlafraum für zwei 37 Euro; Information und Buchung über fan-village.ch

Essen, Trinken, Ausgehen: Wer Genf besucht, sollte dort Käsefondue gegessen haben - und sich daran erinnern, dass im Comicband "Asterix bei den Schweizern" diejenigen ausgepeitscht werden und im Genfer See landen, die beim Eintunken ihr Brot im Käse verlieren. Käsefondue gibt es in vielen Restaurants; in der kleinen Brasserie in der Rue de la Coulouvrenière im Viertel La Jonction erklärt der Wirt weit gereisten Gästen, welchen Käse, welchen Wein und Schnaps es in den Caquelons gibt. Von dort ist man auch schnell in der Usine, einer alten Fabrik, die heute den Club "Zoo" beherbergt, sowie die Bar Moloko. Ein paar hundert Meter weiter zwischen Quai du Rhône und Boulevard de Saint-Georges liegt das Artamis, ein einst von Besetzern genutztes Gewerbegelände, auf dem noch bis Herbst alternative Clubs und Bars ihre Pforten geöffnet haben - dann muss die Alternativkultur anderen Zwecken weichen. Auf dem Rückweg lohnt sich ein Besuch im Keller von Le Cabinet, der Szenebar auf dem Boulevard Saint-Georges. JMI

Heute tagt in Genf der Menschenrechtsrat, und rund um den UN-Sitz an der Place des Nations haben sich etliche UN-Organisationen niedergelassen, etwa das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge, die Weltgesundheitsorganisation, die Weltorganisation für intellektuelles Eigentum und die Welthandelsorganisation (WTO). Über allem thront das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. An seinem Hauptsitz wenige Meter oberhalb des UN-Palais unterhält es ein Museum über die Geschichte des Roten Kreuzes. Hier in seiner Heimatstadt hatte es 1863 Henry Dunant ins Leben gerufen.

Die beschauliche Stadt am Lac Léman, eingebettet zwischen Jura und Alpen, wäre ohne seine "étrangers" fast eine Kleinstadt: Die amtliche Statistik des Kantons meldet, dass von 185.855 Genfern im März 82.530 Ausländer waren. Wenn bloß nicht die hohen Mieten und der Wohnungsmangel wären, die die Genfer dem Zuzug wohlhabender Diplomaten und Geschäftsleute zuschreiben. Übernachtungs- und Lebenshaltungskosten sind in Genf noch höher als in der ohnehin teuren Schweiz. Doch etliche Flüchtlingsströme haben schon seit der Genfer Reformation stets dafür gesorgt, dass Genf seit vier Jahrhunderten einen Ausländeranteil von über 30 Prozent hat, angeführt von Italienern, Spaniern und Portugiesen.

Für Portugals Mannschaft dürfte das bei zwei Spielen in der Gruppe A einen Quasi-Heimvorteil bedeuten. Denn gerade unter den portugiesischstämmigen Genfern sollen die größten Fußballfans der Stadt zu finden sein, behaupten die Einheimischen. Sie selbst lässt das runde Leder angeblich kalt. Im Informationsbüro der Stadt gesteht man offen, dass das Interesse an der EM bisher eher verhalten sei, die freundliche Dame braucht eine Weile, bis sie die Informationsbroschüren zur EM gefunden hat. "Die Genfer gehen eben viel lieber segeln, spielen Tennis oder fahren im Winter Ski", sagt ein Student, der im Parc des Bastions mit Freunden kickt. Er habe ja durchaus Spaß an Fußball, aber mit dem heimischen Club Servette FC sei das so eine Sache. Der traditionsreiche Verein, nach Grasshoppers Zürich mit 17 Titeln der erfolgreichste der Schweiz, spielt zurzeit nur in der Schweizer Challenge League, zweitklassig, nachdem ihn waghalsige Investments des damaligen Mehrheitsaktionärs und Präsidenten Marc Roger 2005 in den Bankrott gestürzt hatten.

Auch der Umzug in ein neues Stadion hat treue Fans verprellt. Der 30.000 Zuschauer fassende Stadionneubau von Servette, fertiggestellt 2003, war seither nur bei der Eröffnung und bei Länderspielen ausverkauft. Der graue Betonkoloss liegt nicht direkt in Genf, sondern zwischen Carouge und Lancy, zwei Nachbarstädtchen der Kantonshauptstadt. Vom Genfer Hauptbahnhof Gare Cornavin ist das Stade de Genève aber trotzdem gut in einer halben Stunde per Bus und Bahn zu erreichen, Busse und Trams verbinden in einem langen Korridor Stadion, "Fan Village" und Innenstadt. Auch eine Schnellstraße führt zum Stadion, doch schon wegen der schlechten Beschilderung empfiehlt sich Ortsunkundigen nicht gerade die Anfahrt mit dem Pkw - der Stadionbereich ist während der EM weiträumig für Pkw gesperrt.

Zwischen Stadion und Hauptbahnhof, in der Genfer Innenstadt auf der Plaine de Plainpalais, lassen sich alle Spiele gratis auch auf zwei 60 Quadratmeter großen Bildschirmen verfolgen - das neudeutsche "public viewing" heißt hier übrigens "la projection des matches". Wo sonst mittwochs und samstags Genfs beliebtester Flohmarkt stattfindet und Skater ihre Künste in der Half-Pipe üben, soll während der EM für bis zu 80.000 Besucher die größte "Fan Zone" der Schweiz entstehen, inklusive 31 Zelt-Restaurants, in denen wahlweise Muscheln, Raclette, portugiesische Küche oder Kebab serviert werden. Auch Tennis-Rentner Yannick Noah, in Frankreich gefeierter Musiker und 2005 zum beliebtesten Franzosen gewählt, tritt am Vorabend der EM mit seiner Mischung aus Pop und Weltmusik in der Fan Zone auf.

Schachspieler im Parc des Bastions Bild: Christoph Schuerpf/swiss-image.ch

Vom Plainpalais, wie die Genfer kurz sagen, ist es auch nicht weit in die Genfer Altstadt. Vorbei an Bars, Bistros und Brasserien kann man im Park der Genfer Universität vier berühmten Genfern einen Besuch abstatten. Die vier Reformatoren schauen dort in Stein gemeißelt strengen Blickes aufs Volk herab. Der bekannteste von ihnen, Johannes Calvin, gründete 1559 die Genfer Akademie, Vorläuferin der Universität. Zuvor aber hatten er und seine Mitstreiter in der Genfer Reformation den Calvinismus begründet und sorgten für strenge protestantische Kirchenzucht in Genf - notfalls auch mit dem Scheiterhaufen. Am Reformationsdenkmal vorbei steigt man Treppen und Gässchen folgend zur Kathedrale Sankt Peter aus dem 12. Jahrhundert auf, an der Calvin einst predigte. Um die Ecke befindet sich das stadtgeschichtliche Museum mit einem beeindruckenden Reliefmodell der Stadt, zweihundert Meter weiter das Geburtshaus von Jean-Jacques Rousseau, das heute eine Ausstellung über den Staatstheoretiker und Philosophen aus dem 18. Jahrhundert beherbergt.

Wer während der EM nicht gerade für Portugal, Tschechien oder die Türkei jubeln will, sondern lieber noch Kultur- und Sportangebote jenseits des Fußballrasens finden will, der ist in Genf gut aufgehoben. Vom Finalschauplatz Wien ist man in Genf mit Abstand am weitesten entfernt, und schon ab dem Viertelfinale wird man rund um den Genfer See beim Stichwort grüner Rasen vermutlich wieder eher an Golf- und Tennisplätze denken. Dass es offenbar selbst die Fußballer in Genf mit dem Fußball weniger ernst meinen, bemerkte einst Karl-Heinz Rummenigge, der seine Karriere bei Servette beendete. "Hier habe ich etwas gefunden, was ich bis dahin noch gar nicht kannte: stressfreien Fußball."

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