Bayerische Gefängnisse: Kalter Entzug

Er hat Heroin gespritzt, hat über viele Jahre mit Methadon den Entzug gesucht. Als er ins Gefängnis muss, soll er auf die Ersatzdroge verzichten, trotz Aidserkrankung.

Die JVA Kaisheim, in der Helmut Harrer einsitzt. Bild: dpa

KAISHEIM taz | Helmut Harrer* ist ein hoffnungsloser Fall. Es ist Besuchszeit in der JVA Kaisheim, und der 56-Jährige rutscht nervös auf der Sitzfläche eines polsterlosen Holzstuhls hin und her. Seit er 16 ist, hängt Harrer an der Nadel – unterbrochen von nur einigen wenigen cleanen Phasen. Der jahrelange Drogenkonsum hat ihn gezeichnet. Unter seinen schmalen Wangen treten die Schädelknochen deutlich hervor, seine Gesichtshaut wirkt wächsern und sein hagerer Körper füllt das graue Sweatshirt kaum aus.

Dass er von Heroin noch einmal loskommt, ist nicht zu erwarten. Zu sehr hat es sein Leben über die letzten vierzig Jahre geprägt. Neben ihm, in dem winzigen, karg möblierten Besuchszimmer, sitzt ein Vollzugsbeamter in Uniform, der das Gespräch überwacht. Weil Harrer gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen hat, verbüßt er seit 2008 eine sechsjährige Haftstrafe.

Es ist das zweite Mal, dass er einsitzt. Die JVA Kaisheim, in der sich Harrer befindet, liegt in Bayern – und das ist sein Pech. Denn während er in Freiheit seit zwanzig Jahren ganz offiziell mit Methadon substituiert wurde, wird ihm diese Behandlung, die ihm das Leben leichter machen würde, in Haft verwehrt.

HIV-infiziert

„Ich war einer der Ersten in Bayern, der an einem Methadonprogramm teilgenommen hat“, sagt der ausgezehrte Mann. Man merkt, dass er stolz darauf ist, einmal irgendwo zu den Ersten gehört zu haben. Das mag viel bedeuten für einen, der sonst meist zum Bodensatz der Gesellschaft zählt.

Die Voraussetzungen für eine solche Behandlung waren in den 1990er Jahren um ein Vielfaches strenger, als sie es heute sind. Doch Harrer kommt schon damals in Betracht. Während seiner langjährigen Drogenkarriere hat er sich irgendwann an einer gebrauchten Spritze mit HIV und Hepatitis infiziert. Die Ersatzdroge Methadon bekommt er deshalb schon früh verschrieben, um zu vermeiden, dass er die Krankheit überträgt.

Das Mittel: Methadon wird als Heroin-Ersatzstoff in der Drogentherapie eingesetzt. Es wirkt schmerzstillend.

Der Einsatz: In Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen ist die Substitutionsbehandlung in Haft grundsätzlich vorgesehen. In Baden-Württemberg kann seit 2011 sogar synthetisch hergestelltes Heroin verabreicht werden, um den illegalen Drogenhandel und die Ansteckungsgefahr durch den mehrfachen Gebrauch von Spritzen in Haft zu unterbinden. Auch in Österreich, der Schweiz und Spanien ist die Substitutionsbehandlung in Haft längst üblich.

Die Ausnahme: In Bayern gibt es die Möglichkeit einer Substitutionsbehandlung im Rahmen einer Therapie nicht. Hier ist sie – zumindest auf dem Papier – nur in Einzelfällen möglich. Praktisch angewandt wird sie lediglich in einer einzigen JVA – und auch dort nur bei Häftlingen, die eine Strafe unter drei Monaten verbüßen müssen oder um den Drogenkonsum langsam auszuschleichen. (maha)

„Durch die Substituierung ging es mir viel besser“, sagt Harrer. „Methadon nimmt einem den Suchtdruck und wirkt nur leicht euphorisierend.“ Mit dem Substitutionsplatz Anfang der 1990er Jahre ging es mit Harrer nach einem ziemlich verkrachten Leben wieder etwas bergauf. Er geht noch einmal zur Schule, macht eine Ausbildung zum Programmierer, findet anschließend eine befristete Beschäftigung bei einem großen Computerhersteller. „Ich habe nur abends Heroin genommen“, sagt er im Rückblick schwärmerisch. „Tagsüber hat mir das Methadon gereicht.“ Selbst als er 2007 in Frührente geht, bleibt er bei der Substitution, spritzt Heroin nur noch gelegentlich, im Sinne eines genussvollen Beikonsums, wie er sagt. Doch nun, in der JVA Kaisheim, einem kleinen Ort nahe Augsburg, wird ihm die Substitution verweigert – mit verheerenden Folgen für seine Lebensqualität.

Wie im Delirium

„Als ich festgenommen wurde, hatte ich noch fünf Fläschchen Polamidon [Firmenbezeichnung von Methadon, d. Red.] dabei“, erinnert sich Harrer. Nehmen durfte er sie nicht. Die Anstaltsärzte setzen ihn auf kalten Entzug, der – so berichten viele Konsumenten – bei Methadon weitaus schlimmer ist als bei Heroin. „Da habe ich wirklich gemerkt, was Schmerzen sind“, sagt Harrer und schüttelt sich leicht, so als jage ihm die Erinnerung daran noch heute einen Schauer über den Rücken.

Mit dem Entzug treten auch die Knochen- und Nervenschmerzen wieder deutlich in sein Bewusstsein, die durch die HIV-Erkrankung ausgelöst werden und die Harrer über Jahre mithilfe des Methadons betäubt hat. „Vier Monate lang lag ich wie im Delirium in meiner Zelle“, sagt er. „Aber das hat hier ewig niemand so recht ernst genommen.“

Weiter oben, im dritten Stock des ehemaligen Zisterzienserklosters, in dem die JVA Kaisheim untergebracht ist, ist Anstaltsleiter Heribert Schilling viel daran gelegen, zu erklären, warum eine Methadonbehandlung in seinem Gefängnis nicht infrage kommt. „Unsere Anstaltsärzte sind der Meinung, dass es in Herrn Harrers Fall einer Substitution nicht bedarf“, sagt er, „sein körperlicher Entzug ist längst vorbei.“ Dass Harrer zuvor, außerhalb der Haft, Teil eines Methadon-Programms war, lässt er nicht gelten: „Wir geben ihm hier die einmalige Chance, von den Drogen loszukommen“, sagt Schilling überzeugt. „Ich sehe keinen Sinn darin, jemandem ohne Not eine Ersatzdroge zu verabreichen.“

Dass Harrer HIV-positiv sei, höre er zum ersten Mal. Und was ist mit dem Risiko einer Ansteckung anderer Gefangener, wenn Spritzen mehrmals gebraucht werden? Man wolle in der JVA möglichst drogenfrei sein, führt der Anstaltsleiter an. Ob denn ein drogenfreies Gefängnis praktikabel ist? Man könne die Gefangenen nun mal nicht einmauern, antwortet Schilling.

„Keine Krankheit“

Ist Drogensucht denn in seinen Augen eine Krankheit? Der Anstaltsleiter hält inne und denkt nach, als hätte er diese Frage soeben zum ersten Mal gehört. „Nein“, sagt er dann und schüttelt den kahlen Schädel. Die Vorstellung, Straftätern auf Staatskosten eine Droge zu verabreichen, scheint für den älteren Mann im grauen Jackett geradezu absurd. Menschen, die gegen das Gesetz verstoßen haben und die eine Strafe absitzen, das Leben zu erleichtern, ebenso. Eine Haltung, die typisch ist für den bayerischen Strafvollzug.

„Bayern bildet im bundesweiten Vergleich das absolute Schlusslicht“, sagt Florian Schäffler. Der Sozialwissenschaftler forscht seit Jahren an der Hochschule für angewandten Wissenschaften in München zu den Themen Suchthilfe und Drogenpolitik. „Die bayerischen Behörden setzen primär auf Repression und stellen die Abstinenz an erste Stelle“, klagt er. „Dabei ist die Substitution seit 1992 ein wichtiger und nicht mehr wegzudenkender Baustein in der Suchthilfe. In Bayern ist man ihren Erkenntnissen um 30 Jahre hinterher.“ Aus politischen Gründen: „Es entbehrt jeder medizinischen und wissenschaftlichen Grundlage, dass man nicht substituiert, also kann man nur annehmen, dass es an der ideologischen Grundhaltung liegt.“

Im besten Fall ein Präzedenzfall

Weil er diesen Missstand nicht länger hinnehmen wollte, schmiedete der Sozialwissenschaftler Schäffler mit der Aidshilfe München und Augsburg einen Plan. Gemeinsam mit Helmut Harrer will der Verein gerichtlich gegen die bayerische Null-Toleranz-Politik vorgehen, im besten Fall einen Präzedenzfall schaffen, und wenn nötig bis zur letzten Instant vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen.

„Die medizinische Versorgung in Haft muss grundsätzlich mit der Versorgung der gesetzlich Versicherten in Freiheit vergleichbar sein“, sagt Rechtsanwalt Florian Haas, der Harrer auf Kosten der Aidshilfe vertritt. Er hat sich auf einen jahrelangen Rechtsstreit eingestellt. „Die Regierung von Oberbayern ist eine erzkonservative Behörde, und da werden die Weichen gestellt“, sagt Haas. Bislang liegt der Fall beim Landgericht Augsburg.

Auch Helmut Harrer ist bereit, zu warten. Fast scheint es, als sei dieser Kampf für ihn ein spätes Ziel, für das es sich in der Einsamkeit der Zelle zu leben lohnt. „Gewinnen werden wir sowieso – früher oder später“, sagt er und umschlingt seinen schmalen Körper mit den Armen. „Und wenn ich dann schon raus bin, dann eben für die anderen, denen es hier so geht wie mir.“

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