Befreite Gebiete in Syrien: Freiheit unter Beschuss

In der Ortschaft Soran scheint das Regime wie vom Boden verschluckt. Rebellen und selbst ernannte Stadträte organisieren den Alltag.

Die Revolutionsflagge! Stammt aus der Zeit vor der Machtübernahme des Assad-Clans. Bild: dapd

SORAN taz | Abu Mohammed nimmt es genau. In einer riesigen Kladde hat er minutiös Spenden aufgelistet: Name, Betrag, Datum. Die kleinste Summe sind 500, die höchste 25.000 Syrische Lira, alles von Einwohnern dieser Kleinstadt nordöstlich von Aleppo gespendet. Umgerechnet sind es eher Kleckerlesbeträge – 100 Lira entsprechen etwa einem Euro –, aber viel Geld hat hier keiner mehr. Was zählt, ist die Geste. Sie ist ein Zeichen der Solidarität unter den Einheimischen mit den Menschen, die durch den Krieg ihr Hab und Gut verloren haben.

Die Spenden sind für die Notfallklinik von Soran. Klinik ist dabei ein hochtrabendes Wort. Es ist eine ehemalige Erste-Hilfe-Station, die schon lange verwaist war. Vor sechs Monaten zog das Regime aus Soran ab. Die Ortschaft mit ihren rund 8.000 Einwohnern ist das, was man als ein gottverlassenes Nest bezeichnet. Einstöckige Häuser säumen die Straßen, die meisten sind verputzt, einzelne haben eine Sandsteinverkleidung.

Mittelpunkt des Ortes ist am ehesten die Straße mit den Schatten spendenden Bäumen, in der die Bäckerei liegt. Außerdem gibt es einen Frisör und einige Minisupermärkte. Vor anderen Läden sind die Metallrollos heruntergelassen. Soran ist jetzt befreit. Unmittelbar nach dem Abzug des Regimes übernahm die Freie Syrische Armee (FSA) das Gebäude der ehemaligen Klinik, säuberte es und machte daraus eines ihrer sogenannten Feldlazarette. Vor allem werden hier jedoch Inlandsflüchtlinge versorgt. Die Behandlung ist kostenlos.

Wie leben die Menschen im Krieg und wie könnte ihr Leben in fünf Jahren aussehen? Niemand weiß es. Mit dem sechsseitigen taz-Dossier in der Print-Ausgabe vom Freitag, 31. August soll auf Entwicklungen hingewiesen werden, die für die Zukunft bedeutsam sein könnten – von positiven Ansätzen im Widerstand über das Erstarken der Zivilgesellschaft bis zur Gefahr eines Bürgerkriegs.

NACHBARN: Kaum jemand hält noch zu Assad. Nun geht auch Ägyptens Präsident auf offenen Konfrontationskurs.

STAAT: Dem Regime entgleitet die Kontrolle über das Land. Nur das Militär ist noch fest in seiner Hand.

VERSORGUNG: Müllabfuhr, Krankenhaus – wie die befreite Stadt Soran ihre Infrastruktur neu aufbaut.

PORTRÄT: Fatma Sahra Haswanil riskiert ihr Leben, um die Aufständischen zu bekochen.

REBELLEN: Die Grenzen zwischen zivilem und bewaffnetem Widerstand sind oft fließend.

Die linke Hand von Abdul Hamid Hamsho ist bandagiert, an seinem Zeigefinger mussten die Ärzte das erste Glied amputieren. Hamsho ist vor zwei Tagen aus Aleppo geflohen. In dem Viertel, aus dem er stammt, wird schwer gekämpft. Es ist die zweite Flucht des Familienvaters. Das erste Mal habe er noch innerhalb der Stadt eine Zuflucht gesucht. „Diesmal war es so schlimm, dass ich Angst um meine Familie hatte“, sagt er. „Wir sind Zivilisten, und trotzdem haben sie uns bombardiert“, fügt er hinzu.

Es fehlt an Medikamenten

Hamsho braucht Schmerzmittel. Doch der kleinen Klinik fehlt es an Medikamenten. In seinem Behandlungszimmer zeigt der Arzt seinen Medikamentenvorrat. Auf einem Metallregal sind ein paar Schachteln gestapelt, die meisten sind fast leer. Eine alte Frau kommt mit ihrer etwa dreijährigen Enkelin. Die Kleine braucht alle zehn Tage eine Bluttransfusion. Der Arzt schickt sie nach Marea, dem nächstgrößeren Ort in der Region.

Dort gebe es ein Labor, sagt der Arzt. Es ist die reine Hilfslosigkeit. Denn er weiß, dass das Labor auch nichts machen kann. Für chronisch Kranke gibt es hier keine medizinische Versorgung mehr. „Niemand hilft uns“, sagt Abu Mohammed. „Der Westen nicht, die Araber nicht und auch nicht die Türkei. Alle reden nur.“

Abu Mohammed ist Rechtsanwalt. Doch seit seinem Studienabschluss ist er arbeitslos. „Die Regimeoberen leben im Luxus, und wir haben das Nachsehen“, sagt er. „Aber ich bin Sunnit, deshalb kriege ich keinen Job.“ Die führenden Kräfte des Regimes gehören wie Präsident Baschar al-Assad der Minderheit der Alawiten an.

Das Gefühl von Unrecht und der Benachteiligung hat den 24-Jährigen wie so viele nach Ausbruch der Protestbewegung auf die Straße getrieben. Zwar gab es in manchen Orten bereits früh bewaffnete Kämpfer. Doch die meisten haben wie der schlaksige 24-Jährige friedlich demonstriert.

Versprochene Reformen

Assad versprach Reformen, schnell wurde jedoch klar, dass er allenfalls Reförmchen im Sinn hatte, die den wachsenden Chor der Regimekritiker nie und nimmer befriedigen konnten. Stattdessen wanderten immer mehr ins Gefängnis. Dabei hatten im Westen nicht Wenige geglaubt, dass, wenn es einen Herrscher im Nahen Osten gebe, der zu Reformen fähig sei, dann der Augenarzt, der in Großbritannien die Vorzüge der Demokratie genossen hatte.

Stattdessen schickte Assad Soldaten und Geheimdienstler auf die Straßen und ließ die Proteste niederschießen. Erst dann formierte sich der bewaffnete Widerstand. Von feindlichen Mächten gesteuerte Terroristen nennt das Regime die Rebellen. Nach schweren Kämpfen haben die Rebellen Ende Juli die letzten Bastionen des Regimes in der Gegend um Soran unter ihre Kontrolle gebracht. Von einzelnen Militärbasen abgesehen beherrschen sie jetzt die gesamte Region zwischen Aleppo im Westen und al-Bab im Osten bis zur türkischen Grenze im Norden.

Das Regime, so scheint es, ist buchstäblich wie vom Boden verschluckt. Bilder von Assad oder seinem Vater Hafis? Fehlanzeige. Nicht einmal zerstörtes oder zerkratztes Konterfei ist während der Fahrt durch die Region zu sehen. Aber auch Insignien der Regimegegner sind selten. Auf der kleinen Klinik in Soran weht die Flagge der Revolution. Das war’s dann aber auch. „Hau ab, Ente“ hat jemand auf eine Hauswand gesprüht. Ente nennt man hier Assad.

Ab und zu sieht man einen Rebellen in Tarnuniform. In jedem Dorf und in jeder Kleinstadt gibt es mindestens ein paar Dutzend Bewaffnete. Aber die meisten kämpfen derzeit an der Front in Aleppo. Nach Hause kommen sie nur, um zu schlafen und Nachschub zu besorgen. Darüber hinaus sind sie für die Sicherheit zuständig, denn Polizisten gibt es keine.

Zehn „Stadträte“

Die seien mit dem Regime verschwunden, heißt es. Für Ruhe und Ordnung sorgen bedeutet in diesem Fall, Leute festzunehmen. Dabei schrecken die Rebellen in ihren improvisierten Gefängnissen auch vor Folter nicht zurück, wie Berichte von Menschenrechtlern zeigen.

Die zivile Verwaltung halten derweil Freiwillige wie Abu Mohammed und selbst ernannte Stadträte am Laufen. Der Rechtsanwalt gehört zu einer Gruppe von hundert Männern, die sich um die Flüchtlinge in Soran kümmern. Mohammed Said ist einer der zehn „Stadträte“ von Soran. Said ist Händler, früher hatte er ein gut florierendes Import- und Exportunternehmen. Durch den Krieg ist sein Geschäft weitgehend zum Erliegen gekommen.

Jetzt kümmert er sich darum, dass in Soran der Müll entsorgt wird, die Bewohner Wasser haben, oder er schlichtet in Streitfällen. Strom gibt es zwar nicht immer, aber immerhin wird er trotz der schweren Kämpfe weiterhin aus Aleppo geliefert. Wasser gab es auch schon früher nur einmal in der Woche. Deshalb müssen Männer wie Said jetzt Traktoren organisieren, die Wasser an die Haushalte liefern. Bisher scheint das zu funktionieren. Schwieriger ist dagegen die Lebensmittelversorgung.

In den Hügeln im Westen und Norden gedeihen Obst- und Nussbäume. Die Ebene, in der Soran liegt, ist – zum Glück für die Bewohner – fruchtbar. Jetzt, im Spätsommer, gibt es noch genügend Obst und Gemüse. Aber was wird, wenn der Winter kommt? Schon jetzt sind Mehl, Reis, Nudeln und Konserven knapp.

„Baschar bringt uns um, und die ganze Welt schaut zu.“

Vor der Bäckerei hat sich eine lange Schlange gebildet. Männer und Frauen drängen sich um die Ausgabe. Ein paar Freiwillige versuchen, Ordnung in die Reihen zu bringen. Vergeblich. Wie einen wertvollen Schatz drückt ein kleiner Junge die Plastiktüte mit rund zehn Fladenbroten an sich, die es für jede Familie gibt. „Hier, das ist, was wir zu essen haben“, schreit eine Frau wütend. „Warum hilft uns niemand? Baschar bringt uns um, und die ganze Welt schaut zu.“

Die Frau ist wie Abu Mohammed und die meisten in der Region Sunnitin. Sunniten bilden die Mehrheit im Land und tragen den Aufstand, sie zahlen aber auch den höchsten Preis dafür.

Nach dem Überraschungsangriff der Rebellen auf Damaskus und Aleppo im Juli hat Assad auch die letzte Zurückhaltung gegenüber der Zivilbevölkerung aufgegeben. Rücksichtslos beschießt die Armee Wohnviertel, die in die Hände der Rebellen gefallen sind, mit Granaten und schwerer Artillerie.

Immer häufiger setzt Assad auch die Luftwaffe ein. Dem haben die Rebellen nichts entgegenzusetzen. Sie ziehen sich vor der militärischen Übermacht zurück und warten auf die nächste Gelegenheit. Zurück bleiben die Zivilisten, die schutzlos der Willkür des Regimes ausgeliefert sind. Zehntausende sind auf der Flucht.

In der Schule gegenüber der Notfallstation in Soran haben rund 150 Menschen Schutz gefunden. Mit ihren Kindern und Enkeln haust Um Ahmed, die Mutter von Ahmed, in einem leeren Klassenzimmer. „Wir müssen hier auf dem nackten Boden schlafen“, sagt die stämmige Alte. „Wo ist die UNO?“

Die Luftangriffe um Soran nehmen zu

Um Ahmed fordert wie Abu Mohammed und die meisten hier ein Eingreifen des Westens. Um Ahmed kann nicht verstehen, dass die Nato in Libyen eingegriffen hat, in Syrien ein Flugverbot bisher aber nicht in Erwägung zieht. „Ist unser Leben weniger wert als das der Libyer?“, fragt Um Ahmed.

Auch in der Gegend um Soran nehmen die Luftangriffe zu. Mitte August wurden in der Stadt Asas an der türkischen Grenze mindestens 30 Personen durch einen Bombenangriff getötet. Seitdem kreisen regelmäßig Kampfjets über der Region und bombardieren offenbar wahllos Wohngegenden. Sollte das Regime darauf setzen, den Rebellen damit den Rückhalt zu entziehen, ist das bisher misslungen.

Abu Mohammed käme es nie in den Sinn, zur Waffe zu greifen. Doch mit Leib und Seele steht er hinter der FSA. „Hilft man uns nicht, weil wir Sunniten sind?“, fragt Abu Mohammed. „Wir wollen doch auch nichts anderes als die Libyer. Wir möchten einfach in Frieden und Freiheit leben.“

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