Behinderte Menschen in den Medien: Wenn Wörter zu Hürden werden

Leidmedien.de engagiert sich gegen diskriminierende Sprache. Erste Verbesserungen stellen sich ein, am Ziel angelangt ist das Projekt aber noch nicht.

Ein Mann passiert im Rollstuhl eine Einkaufswagen-Schranke in einem Supermarkt

Ein Mann im Rollstuhl wird behindert Foto: Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de

BERLIN taz | Stellen Sie sich vor, 1,6 Millionen Menschen in Deutschland säßen gefesselt zu Hause. Jeglicher Freiheit beraubt, vollkommen hilflos und gebrochen.

Das wäre die Realität, würde man die weit verbreitete Formulierung, jemand sei „an den Rollstuhl gefesselt“, konsequent zu Ende denken. In Deutschland leben 1,6 Millionen Rollstuhlfahrer_innen. Journalist_innen, die über diese und andere Menschen mit Behinderung berichten, stellen sie häufig stereotyp als Held_innen oder Opfer dar.

„Oft wird nicht auf Augenhöhe berichtet“, kritisiert die Journalistin Lilian Masuhr – etwa wenn Interviews nicht mit dem jeweiligen Menschen persönlich, sondern mit Eltern oder Betreuer_innen geführt würden. Masuhr ist Leiterin von Leidmedien.de – einer Website, die über klischeehafte und oft abwertende Sprache informiert. Der Berliner Verein Sozialhelden hat das Projekt 2012 gegründet, finanziert wird es von der Aktion Mensch.

Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen: Jede_r achte hierzulande ist behindert. „Wird behindert“, sagt Lilian Masuhr. Wenn eine Rollstuhlfahrerin nicht in ein Restaurant komme, weil es nur eine Treppe gebe, dann sei ja nicht der Rollstuhl das Problem, sondern die fehlende Rampe.

Kritik am Bundesteilhabegesetz

Die Bundesregierung will die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben zwar verbessern. Das neue Bundesteilhabegesetz stößt jedoch auf harte Kritik vieler Organisationen – darunter der Deutsche Behindertenrat und die Fachverbände für Menschen mit Behinderung. Die Kritiker_innen befürchten Leistungseinschränkungen und Verschlechterungen im Vergleich zur aktuellen Gesetzeslage.

Neben ihrer Online-Aktivität halten die Leidmedien Workshops in Redaktionen und Organisationen, um über Sprache und Barrierefreiheit zu informieren. Michel Arriens ist einer der zahlreichen freien Mitarbeiter_innen, die das Projekt hierbei unterstützen. Arriens ist Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e.V. (BKMF) und studiert Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Hamburg. Weil er Probleme mit dem Laufen hat, fährt er Roller – daran gefesselt ist er nicht. Im Gegenteil: „Der Roller bedeutet für mich bedingungslose Freiheit.“

Michel Arriens, BKMF

„So wie man schreibt und spricht, so denkt man auch“

Nur wenn ein Mensch selbst erzähle, dass er leide, dürfe man das auch schreiben, findet Arriens. Dann berichtet er von einem Interview, das sein Freund Raul Krauthausen – Mitgründer der Sozialhelden – gegeben hat: „Raul hat mehrmals gesagt, dass er nicht leidet. Im fertigen Text stand dann das Gegenteil.“ Arriens ärgert sich darüber, dass Journalist_innen immer wieder auf die Formulierung „leidet an Kleinwuchs“ und ähnliche Floskeln zurückgreifen.

Mehr Kreativität

Beispiele wie dieses bringen die Leidmedien mit zu ihren Workshops – sie zeigen Ausschnitte aus Filmen und Radiobeiträgen. „Da wird einem schon deutlich, dass sich immer wieder einseitige Sprachbilder in die Berichterstattung einschleichen“, erzählt Claudia Plaß. Sie ist Reporterin beim NDR, den das Projekt im Sommer besuchte. Plaß glaubt, dass derartige Workshops wichtig seien, um Journalist_innen zu sensibilisieren. „Schließlich können wir mit unserer Arbeit ja auch Ängste und Vorurteile abbauen.“

Tatsächlich nehme die Kreativität von Journalist_innen zu, beobachtet Lilian Masuhr. Sie lobt beispielsweise Versuche, die Wahrnehmung einer Autistin mithilfe von Bildern zu erklären oder in einem Artikel über Legasthenie auf verschiedene Arten den Lesefluss zu stören.

Auch Michel Arriens sieht positive Entwicklungen in der medialen Darstellung: Er finde es gut, dass die kleinwüchsigen Schauspieler_innen Christine Urspruch und Peter Dinklage in den Serien Dr. Klein und Game of Thrones vollwertige Rollen verkörpern. Viel zu oft würden Menschen mit Kleinwuchs jedoch noch immer auf diesen reduziert. Die Effekte von Sprache dürfe man hierbei nicht unterschätzen, sagt Arriens. Denn: „So wie man schreibt und spricht, so denkt man auch.“

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