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Inklusion im Alltag„Wenn die Wagenreihung falsch ist, bin ich raus“

Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Regierung, sieht Fortschritte bei der Inklusion. Er weist aber auch auf große Defizite, etwa bei der Bahn, hin.

Menschen mit Behinderung erleben im Alltag in Deutschland weiterhin vielfältige Hürden Foto: imago
Jonas Wahmkow
Interview von Jonas Wahmkow

taz: Herr Dusel, Sie wurden vor Kurzem erneut von der Bundesregierung zum Beauftragten für Menschen mit Behinderungen ernannt. Wie ernst nimmt die Bundesregierung die Themen Inklusion und Barrierefreiheit?

Jürgen Dusel: Im Koalitionsvertrag gibt es einen ganzen Abschnitt zum Thema Inklusion. Außerdem wird in sehr vielen Themenfeldern Inklusion mitgedacht, beispielsweise bei der Digitalisierung oder im Gesundheitswesen. Wie ernst es die Bundesregierung damit meint, wird sich daran bemessen, wie viel davon auch umgesetzt wird.

taz: Sie arbeiten schon lange als Behindertenbeauftragter, seit 2018 für die Bundesregierung, davor in Brandenburg. Wie groß ist das Bewusstsein in den Verwaltungen gegenüber den Themen Inklusion und Barrierefreiheit?

Dusel: Es ist gewachsen. Ein ganz wesentlicher Push war die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009. Aber natürlich ist das Bewusstsein, dass Barrierefreiheit eben nicht „nice to have“ ist, sondern einfach eine Grundvoraussetzung für Teilhabe, sehr unterschiedlich vorhanden. Die meisten Menschen haben Bilder in den Köpfen von Menschen mit Behinderungen, die nicht immer stimmen, und da will ich die Kolleginnen und Kollegen aus der Verwaltung gar nicht ausnehmen.

taz: Sie sprechen aus Erfahrung?

Dusel: Die meisten denken ja an die Rollstuhlnutzerinnen und Rollstuhlnutzer, aber die Gruppe der Menschen mit Behinderungen ist bunt und divers. Ich bin selbst jemand, der aufgrund seiner Sehbehinderung weiß, wie das ist. Ich kann super Treppen laufen, aber wenn der Zug in der falschen Wagenreihung kommt, bin ich raus.

Bild: Thomas Rafalzyk
Im Interview: Jürgen Dusel

ist ein deutscher Jurist und seit 2018 der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

taz: Wie lässt sich da gegensteuern?

Dusel: Durch Begegnungen. Ich bin sicher, wenn Sie in ihrer Schulklasse jemanden haben mit einer Behinderung und später Personalverantwortung übernehmen, dann werden Sie anders agieren, als wenn Sie noch nie mit Menschen mit Behinderungen zu tun gehabt haben. Deswegen ist dieses gemeinsame Lernen so wichtig. Ich weiß von Leuten, die mit mir zusammen in der Schule waren und später in ihren Unternehmen Menschen mit Schwerbehinderungen eingestellt haben. Auch zur Barrierefreiheit: Eine Architektin, die in ihrer Schulklasse jemanden gehabt hat, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist, wird anders bauen.

taz: Die UN-Behinderten- rechtskonvention sichert jedem Menschen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zu. Wo gibt es in Deutschland derzeit noch die größten Barrieren, die Teilhabe verwehren?

Dusel: Sie können sich ja mal vorstellen, dass Sie ab jetzt auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Kommen Sie noch in ihre Wohnung rein? Kommen Sie noch in die Wohnung ihrer Freunde rein? Wie ist es, wenn Sie eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen wollen? Wie ist es, wenn Sie ins Kino, ins Theater wollen? Dann werden Sie merken, dass wir Menschen mit Behinderungen sehr, sehr oft, gerade im Bereich des Privaten, auf Barrieren stoßen.

Ins Rathaus kommt man meistens ganz gut, aber wie ist es, wenn ich einen Facharzt aufsuche?

taz: Was meinen Sie mit Privatbereich?

Dusel: Wir haben in Deutschland zwei Sektoren: Der eine ist der öffentliche Bereich. Beispielsweise: Komme ich mit meinem Rollstuhl ins Rathaus? Das klappt meistens schon ganz gut, aber nun geht man ja nicht jeden Tag ins Rathaus. Sondern die Frage ist eher, wie komme ich in die Kneipe um die Ecke oder wie ist es, wenn ich eine Fachärztin oder Facharzt aufsuche? Ich setze mich sehr dafür ein, dass auch private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen, die für die Allgemeinheit bestimmt sind, zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Da gibt es in Deutschland einen riesigen Nachholbedarf.

taz: Das heißt, wer unnötige Barrieren schafft, sollte bestraft werden?

Dusel: Das wäre meine Position. Der Koalitionsvertrag ist in der Beziehung tatsächlich ein bisschen unkonkret. Die Bundesregierung will darauf hinwirken, dass auch private Anbieter mehr Barrierefreiheit umsetzen. Aber nach meinen Erfahrungen braucht es da gesetzliche Regelungen. Da auf bessere Einsicht zu warten, wird nicht zielführend sein. Barrierefreiheit ist ein Qualitätsstandard für ein modernes Land. Das heißt, wenn wir unser Land barrierefreier machen, machen wir es moderner und besser. Und wer heutzutage noch etwas mit Barrieren baut, sei es einen Bahnhof oder eine digitale Infrastruktur, der ist unprofessionell und macht einen schlechten Job.

taz: Apropos Bahnhof: Wie schätzten Sie die Situation der Deutschen Bahn ein? Einerseits verspricht das Unternehmen, Bahnhöfe barrierefrei gestalten zu wollen, andererseits gibt es immer wieder Berichte über defekte Aufzüge und fehlende Blindenschrift an den Bahnsteigen.

Dusel: Die Deutsche Bahn hat einen massiven Nachholbedarf. Auch bei großen Bahnhöfen gibt es noch Defizite. Barrierefreiheit ist halt mehr als nur die stufenlose Zugänglichkeit zum Gleis oder zum Bahnhofsgebäude. Taube Menschen sind beispielsweise bei einem akustisch verkündeten Gleiswechsel einfach raus. Oder Menschen, die blind sind, und beispielsweise die Situation haben, dass ausgerechnet dann, wenn der Gleiswechsel verkündet wird, der Zug einfährt und sie gar nichts mehr hören.

taz: Merz hat vor Kurzem für Verunsicherung gesorgt, als er die Eingliederungshilfe – also Unterstützungsleistungen wie Einzelfallhilfe, Beförderungsdienste und Werkstätten für Behinderte – infrage gestellt hat. Wie sehr ist das Thema Inklusion gefährdet durch Kürzungspolitik?

Dusel: Der Bundeskanzler hat gesagt, es kann nicht sein, dass die Kosten der Eingliederungshilfe immer weiter steigen. Ich finde es an sich nicht schlimm, zu fragen, warum steigen diese Kosten und was kann man tun, um sie zu senken? Doch es darf nicht um Leistungskürzungen gehen. Sondern darum, wie wir es schaffen, dass Menschen mit Behinderungen weniger angewiesen sind auf Leistungen der Eingliederungshilfe. Ganz konkret: Wie schaffen wir es endlich, Menschen mit Behinderungen aus Werkstätten für Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu bringen? Damit wären sie raus aus der Eingliederungshilfe und verdienten ihr eigenes Geld.

taz: Sehen Sie die mühsam erkämpften Fortschritte gefährdet durch rechtsextreme Kräfte wie die AfD?

Dusel: Inklusion ist mittlerweile zum Zankapfel geworden. Dabei muss klar sein, dass Menschen mit Behinderungen Teil dieser Gesellschaft sind. Ich erlebe, dass viele Leute jetzt anfangen so zu tun, als wäre das die reine Nächstenliebe. Man sieht sehr stark, dass es politische Kräfte gibt, die versuchen, Menschen an den Rand zu drängen. Wenn ich über Inklusion rede, dann meine ich nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern Menschen in ihrer Vielfalt, alt und jung, Mann und Frau, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Da wird klar, dass es dabei um etwas Urdemokratisches geht. Demokratie braucht Inklusion. Ein Land, das nicht inklusiv ist, ist nicht demokratisch.

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