Berlin-Kreuzberg blockiert: Vier Platzhalter für eine Pinkelpause

An den Sperren rund um die von Flüchtlingen besetzte Schule in Berlin fanden am Dienstag Sitzblockaden statt. Eindrücke von vor Ort.

Die Polizei hat den Reichenberger Kiez in Berlin-Kreuzberg zu ihrer Auslaufzone gemacht (Archivbild vom 26.06.). Bild: dpa

BERLIN taz | Die Schreie sind von weitem zu hören. „Haut ab! Haut ab!“, ruft die Menge. „Achtung! Achtung!“, schnarrt es aus einem Polizeilautsprecher. Eine junge Frau kommt aus Richtung der Blockade gewankt. Sie hält sich den Kopf, ihre Nase blutet. Zwei junge Männer geleiten sie auf einen Stuhl eines der vielen Cafés an der Wiener Straße.

Die Kreuzung zur Lausitzer Straße ist durch 200 sitzende Menschen blockiert, mindestens noch mal so viele Demonstranten stehen dahinter. Die Lausitzer ist eine der Straßen, die zur von Flüchtlingen besetzten Schule führen. Seit einer Woche ist sie von der Polizei abgeriegelt, damit keine Unterstützer rein kommen. Seit einer Woche hocken Demonstranten davor, damit eventuell geräumte Flüchtlinge nicht raustransportiert werden können. Ein Dauerpatt.

Und das Geschrei gerade eben? „Die Bullen haben eine Sitzblockade geräumt“, erzählt ein Demonstrant gegen 16.15 Uhr. Dann seien sie bis zur nächsten Sitzblockade vorgerückt. Nun steht die Polizeikette nicht mehr hinter dem Gatter am Beginn der Lausitzer Straße, sondern zehn Meter davor. Warum das Ganze? Schulterzucken allerorten.

Ansonsten hat sich die Lage erstmal wieder beruhigt. Mitten in der Blockade sitzen drei Frauen, weiße Hemden, schwarze Hüte. Sie spielen Akkordeon, Geige, Flöte. Die Blockierer klatschen, mal im Takt der Musikerinnen, mal im Rhythmus der kämpferisch gerufenen Slogans: „Siamo tutti antifascisti!“

Die Sonne knallt auf die Menge. „Noch jemand Wasser?“, ruft eine junge Frau mit Rastazöpfen und reicht eine Flasche zu den Blockierern.

„Waren Sie eigentlich schon mal auf einer Demo?“, fragt ein junger Mann einen Polizisten in der ersten Reihe. „Nein“, antwortet der, „nicht in meiner Freizeit, da habe ich anderes vor.“ Dann streiten sie über Aktionsformen. „Machen Sie doch einen Aufzug“, sagt der Beamte aus Baden-Württemberg, „da kommen viel mehr Leute. Und es nicht so gewalttätig.“ „Was ist denn an einer Blockade gewalttätig?“, fragt der Demonstrant zurück. Doch der Polizist kann nicht mehr antworten, seine Einheit wird gerade abgelöst.

Eine junge Frau mit stark geröteten Augen steht in der Mitte der Blockade und zeigt auf einen der Polizisten in der ersten Reihe. „Du da“, ruft sie, „warum hast du mir Pfefferspary direkt ins Gesicht gesprüht?“ Alle Polizisten gucken bewusst unschuldig, einer hat eine Pfefferspraydose am Gurt. „Ja, dich meine ich!“, ruft die junge Frau. „Ich hab überhaupt nichts getan.“

Ein junger Typ mit einer schwarz-rot-goldenen Papierkette um den Hals kommt zu Blockade. „Das ist hier wegen der besetzten Schule, oder?“, fragt er die Sitzenden. Als die nicken, stellt er sich mit ausgestreckten Armen provozierend vor die Polizeikette. Dann hockt er sich zu den anderen Blockierern. Einer von denen schaut kritisch auf den Halsschmuck des neu Hinzugekommenen. „Kannst du dich bitte woanders hinsetzen?“, fragt er dann. „Nie! Nie! Nie wieder Deutschland!“, ruft jemand aus einer anderen Ecke.

Ein Geburtstagsständchen für eine Blockiererin

Eine der Blockiererinnen in der ersten Reihe hat Geburtstag. Als das die Runde macht, wird werden keine Parolen mehr gesungen, sondern ein lautes „Happy Birthday“. Die Musikerinnen stimmen ein. Dann folgt noch ein Kinderlied: „Wie schön dass du geboren bist / wir hätten dich sonst sehr vermisst / wie schön dass wir beisammen sind, wir gratulieren dir, Geburtstagskind!“ Die Menge ist überraschend textsicher, auch bei den Strophen: „Dich so froh zu sehen / ist was uns gefällt / Tränen gibt es schon / genug auf dieser Welt.“ „Und Tränengas auch!“, ruft ein Blockierer. Die Menge lacht, die Polizisten verziehen keine Miene. Erst als ein Langhaariger eine Bierflasche auf seinem Kopf balanciert, kann einer der Beamten ein Lächeln nicht unterdrücken.

Einer der Blockierer hebt seinen Arm hoch und ruft: „Ey Leute, ich muss mal pinkeln. Können so lange vier Leute meinen Platz einnehmen?“ Tatsächlich drängeln sich zwei Frauen und zwei Männer nach vorne. Die Menge klatscht.

Ein leicht graumelierter Typ sitzt mit einem Megaphon in der ersten Reihe und hält den Polizisten eine minutenlange Moralpredigt. „Ihr seid selbst verantwortlich für euer Handeln!“, ruft er. „Was macht ihr hier? Wollt ich die Verantwortung tragen, dass die 40 Flüchtlinge da oben auf dem Dach bei einer Räumung in den Tod springen?“, fragt er. Die Masse applaudiert, die Polizisten schweigen.

Dann zieht die Polizei plötzlich ab. Genau eine Stunde nachdem sie zehn Meter Land gewonnen hat, gibt sie den Raum wieder Preis. Warum das Ganze? Schulterzucken. Die Blockierer jubeln, rücken vor bis an Gatter und setzen sich dort wieder hin, wo sie vor einer Stunde saßen.

Es ist ein buntes Völkchen hier auf der Straße. Viele junge Leute, so wie bei Demos üblich. Nur eine Klientel fehlt, die man normalerweise bei solchen Events immer sieht: Vertreter der Grünen.

Nur ein prominenter Grüner ist zu sehen, er steht etwas abseits. Er schüttelt mit dem Kopf. Er fasst sich an die Stirn. Er findet sehr klare Worte über die Politik seiner Parteifreunde im Bezirksamt, die für den jetzt schon eine Woche lang laufenden Polizeieinsatz verantwortlich sind. Ob er das auch öffentlich sagen würde? Er überlegt nur kurz und sagt dann: Nein, das möchte er nicht.

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