Berlin-Tatort „Erika Mustermann“: Die Abgründe alltäglicher Ausbeutung
Im neuen Berlin-Tatort trifft eine Hochsicherheitszone aufs Prekariat. Es geht um falsche Identitäten, verlorene Liebe und brillante Ermittler.
Mein Arbeitsweg zur taz führt mich seit elf Jahren an der Bundesdruckerei in Berlin-Kreuzberg vorbei. Der Gebäudekomplex ist hermetisch abgeriegelt. Nur ein paar Wachleute sind zu sehen und ab und an schiebt sich ein mächtiges Tor auf. Vom Rad aus kann man sehen, dass es sich um eine gigantische Sicherheitsschleuse handelt, in die Lkws hineinpassen. Wie es wohl im Inneren zugeht? Eine Idee davon, wenn auch fiktiv, liefert der neue „Tatort“ aus Berlin mit dem schönen Namen „Erika Mustermann“.
Ein Rider, wie die prekär beschäftigten Lieferdienstfahrradfahrer im Firmenjargon genannt werden, fährt durch eine Seitenstraße. Der junge Mann wird von einem Auto überfahren. Eine blinde Frau hört den Unfall und hat einen Hinweis … Der Rider ist tot, der Verkehrsunfall entpuppt sich als Mord. Susanne Bonard (einfach herrlich: Corinna Harfouch) und Robert Karow (gewohnt ruppig: Mark Waschke) suchen im Umfeld des Opfers nach Hinweisen. Der hatte einen Ausweis dabei.
Als die beiden Ermittler die Nachricht überbringen, ihr Partner sei tot, ist die Frau – ein Baby auf dem Arm –, erschüttert. Doch kurze Zeit später steht ihr Mann lebend in der Tür!? Keine Angst, das hier ist keine Burleske, sondern ein erschütterndes Migrantendrama mit unerwartetem Plot.
Der tote Rider namens Tomás Rey hatte einen falschen Ausweis dabei, daher die Verwechslung. Wie sich herausstellt, kam er einst mit einem abgelaufenen Touristenvisum aus Venezuela nach Deutschland und wohnte mit seinem Bruder Luís und einem Freund in einer WG. Ohne gültige Aufenthaltspapiere können sie hier nur dank des falschen Ausweises arbeiten. In der Lieferdienstzentrale wundert sich niemand, dass „Fahrer 194“, eine einzige Person, jeden Tag elf und mehr Stunden durcharbeitet, ohne einen freien Tag. „Ihre Fahrer sind Nummern?“, fragt Karow irritiert. Selten wurde Ausbeutung so plastisch dargestellt.
Mit schwerem Rucksack aus der Bundesdruckerei
Das Todesopfer hatte ein Verhältnis mit Annika Haupt (einfach grandios: Annett Sawallisch), die als Sicherheitsmitarbeiterin in der Bundesdruckerei angestellt ist. Natürlich vermuten Bonard und Karow einen Zusammenhang und tippen auf den Diebstahl von frisch gedruckten Banknoten. Videoaufnahmen legen das nahe: Rider Rey verlässt die Bundesdruckerei kurz vor seinem Tod wutentbrannt mit schwerem Rucksack – von dem fehlt jede Spur.
Die Kommissar:innen müssen in die Bundesdruckerei. Die Kulissen sind allerdings völlig frei erfunden – es konnte nicht an Originalschauplätzen gedreht werden. In der Druckerei fehlen keine Geldscheine. Die Sicherheitsvorkehrungen machen Diebstahl unmöglich. Aber könnte es nicht doch Schwachstellen in so einem Hochsicherheitsbereich geben? Die einzig denkbare Lücke im sonst perfekten System kann nur menschliche Verführbarkeit sein.
Könnte die trauernde Geliebte des Toten involviert sein? Wer sind die Drahtzieher? Wer nutzt das Elend der Fahrradkuriere schamlos aus? „Einfach leben – wie ihr!“ – sagt der Bruder des Toten über die Beweggründe, zu diesen unmenschlichen Bedingungen illegal zu arbeiten.
„Erika Mustermann“ ist der fünfte Berliner „Tatort“ von sechs Episoden mit Harfouch als Susanne Bonard. Die Rollenfigur geht in Rente. Das ist schade, aber alles hat ein Ende. Auch ich gehe. Nicht in den Ruhestand, doch das war mein letzter Text für diese wunderbare Krimi-Kolumne.
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