Berlin nach dem Terroranschlag: Offen bleiben, aus Trotz

Er sei heute besonders freundlich, sagt der tunesische Busfahrer. Wie die Hauptstadt auf die Gewalt reagiert.

Flüchtlinge stehen mit Kerzen am Breitscheidplatz

Flüchtlinge sind mit Kerzen an den Breitscheidplatz gekommen um der zwölf Toten zu gedenken Foto: reuters

BERLIN taz | Unscheinbar, fast verschämt, brennen am frühen Dienstagmorgen fünf kleine Lichter der Trauer. Vor dem Kino Zoo-Palast, in Sichtweite des Anschlagsorts auf dem Breitscheidplatz, stehen die Grablichter, zwei kleine Blumensträuße liegen daneben.

Hinter einem Flatterband stehen Polizisten in Sturmhauben – und erklären den wenigen Passanten geduldig, wie sie zu ihren Arbeitsplätzen kommen. Der Nebel, der seit Tagen über der Hauptstadt hängt, taucht den Breitscheidplatz, das Herz des alten Westberlin, in ein zähes, undurchdringliches Grau.

Am Vorabend ist für den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, für Berlin, für ganz Deutschland die Zeit der Vorfreude auf ein friedliches Weihnachtsfest abrupt zu Ende gegangen.

Zwölf Menschen sind ums Leben gekommen, als ein Sattelschlepper, beladen mit Stahlrohren, vorsätzlich in die Menschenmenge gelenkt wurde. Der polnische Fahrer – gekidnappt, vermutlich zu dem Zeitpunkt bereits tot; der Täter – möglicherweise festgenommen, möglicherweise noch auf der Flucht.

Tannengrün ragt aus der Fahrerkabine

Der Platz selbst ist weiträumig abgesperrt. Die Zugmaschine des Sattelschleppers liegt noch auf der Straße; der Anhänger, der halb auf dem Bürgersteig, halb in einer Reihe von Marktbuden gestrandet war, ist bereits weggeschafft. Mitarbeiter eines Abschleppdienstes in orangefarbener Arbeitskleidung bereiten die schwere Zugmaschine für den Abtransport vor. Aus der Fahrerkabine ragt Tannengrün, das der Lkw bei seiner Todesfahrt durch den Weihnachtsmarkt mitgerissen hat.

Kurz nach 8 Uhr drehen sich zum ersten Mal die Räder des Lkw, von Fotografen und Kamerateams beäugt. Doch schon nach wenigen Metern ist wieder Schluss. Jetzt fährt der Abschleppwagen von hinten an den Lkw heran. Es scheint, als würde sich der Sattelschlepper weigern, den blutigen Ort zu verlassen. 12 Tote und 45 Verletzte sind die Bilanz des Vorabends.

Am Morgen verbreiten sich diese Zahlen. Zunächst war das Ausmaß des Anschlags nicht erkennbar gewesen, als am Montagabend gegen 20.35 Uhr die ersten Notrufe eingehen. Von einem Toten und mehreren Verletzten ist die Rede. Schon um 20.56 spricht die Polizei von einem Anschlag, um 21.10 von neun Toten. Um 21.13 ergeht die Aufforderung an die Berliner: „Bleiben Sie zu Hause!“ Der Appell der Polizei zeigt Wirkung.

„Am Breitscheidplatz war ein Terroranschlag, fahr da nicht lang!“, brüllt ein Autofahrer einem Radfahrer zu. Die Straßen rings um die Westberliner City wirken wie ausgestorben. Der innere Zirkel um den Breitscheidplatz ist mit Flatterband abgesperrt, Polizeiautos blockieren die Straßen. Uniformierte mit Maschinengewehren bewachen die Zufahrt zur Budapester Straße. Dort ist der Truck zum Stehen gekommen, dort werden nun die Verletzten versorgt.

Blaulicht zuckt über den Budenzauber. Im Minutentakt kommen die Rettungswagen angebraust. Manche kehren bereits von ihrer ersten Fahrt aus den Krankenhäusern zurück, um weitere Verletzte aufzunehmen. „Machen Sie die Straße frei!“, brüllt ein Polizist einen Autofahrer an, der auf der Kreuzung zum Stehen gekommen ist. Fast hätte ein Krankenwagen das Auto gerammt.

Ein Autofahrer

„Am Breitscheidplatz war ein Terroranschlag, fahr da nicht lang!“

Nach 22 Uhr aber schwellen die Martinshörner ab. Am Zoopalast stehen die Rettungswagen in einer Karawane. Die schlimmsten Fälle sind offenbar versorgt. Journalisten und Schaulustige versammeln sich an der Absperrung. „Fassen sie mich nicht an“, schreit ein Mann einen Uniformierten an, der ihn auf dem Bordstein hinter das Flatterband zurückdrängt.

Vom Bikini-Haus aus hat man einen freien Blick auf den Sattelschlepper, etwa 100 Meter sind es bis dorthin. Im Hintergrund glitzern Lichterketten, als wäre normaler Weihnachtsmarktbetrieb. Doch in den Krankenwagen versorgen bei geöffneten Türen Sanitäter die Verletzten, die selbst laufen können. Und daneben lässt sich schemenhaft erahnen, dass unter den glitzernden Folien menschliche Körper liegen.

In den Berliner Nachthimmel ragt die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, daneben – in warm-blauem Licht – der Nachkriegsneubau der Kirche in Wabenform, und über allem der Mercedesstern auf dem Europacenter. Die Kulisse, die Jahrzehnte den freien Teil Berlins symbolisierte, liefert nun den Hintergrund für den größten Anschlag, der Deutschland in der jüngsten Vergangenheit getroffen hat.

Thomas Neuendorf, der Pressesprecher der Berliner Polizei, hat die Aufgabe, gut zwei Stunden nach dem Anschlag, erste, halbwegs gesicherte Angaben zu machen. Neuendorf spricht von neun Toten und einer Vielzahl von Verletzten. Die Zahl der Toten wird in der Nacht steigen. Und ob der Verdächtige, der in der Nähe der Siegessäule festgenommen werden konnte, wirklich der Täter ist, bleibt offen. „Für Berlin besteht keine Gefahr mehr“, legt sich Neuendorf fest. Zu früh, wie sich am nächsten Tag herausstellen wird.

Razzia am frühen Morgen

Es ist bitterkalt am Dienstagmorgen am ehemaligen Flugplatz Tempelhof. Hier, im Hangar 6, soll der Verdächtige, der kurz zuvor an der Siegessäule festgenommen wurde und dessen Namen mit Naved B. angegeben wird, gewohnt haben. Ein polizeiliches Einsatzkommando hat sich Zugang zum Hangar verschafft.

„Es waren viele Polizisten, vielleicht über fünfzig“, erzählt Zakaria M., ein 23-jähriger Syrer, der schon seit sechs Monaten in der Flüchtlingsunterkunft auf dem ehemaligen Flughafengelände in einer der abgeteilten Kabinen des Hangar 6 wohnt. „Sie riefen, wir sollen alle in unseren Räumen bleiben.“ Nein, seine Kabine sei nicht durchsucht worden, sagt er. Die Polizei bestätigt später, dass sie nur die Kabine des Verdächtigen durchsucht habe.

Einen jungen Pakistaner mit Vornamen Naved kenne er nicht, sagt M., er wisse auch von niemandem, der den Verdächtigen kenne. „Hier ist jede Gruppe für sich.“ Das liege schon an den unterschiedlichen Sprachen. Nach M.s Schätzung wohnen rund 300 Leute im Hangar, im gesamten Flughafen sind es noch über 1.000 Flüchtlinge. Vier bis fünf Leute teilen sich jeweils eine Kabine, durch dünne Stellwände abgetrennte Räume, die nach oben offen sind. Die Duschen und Toiletten befinden sich getrennt von den Schlafkabinen im Hangar.

Jumakhan aus Afghanistan, der 20 Jahre alt ist und nur seinen Vornamen nennt, wohnt schon seit einem Jahr im Hangar 6. Auch ihn habe die Polizei in der Nacht geweckt, erzählt er. Die Bewohner wurden angewiesen, in ihren Kabinen zu bleiben, durften nicht mal zur Toilette. Die Polizei sei ungefähr zwei Stunden dagewesen. Einen Pakistaner namens Naved, der auch im Hangar 6 gewohnt haben soll, kennt auch er nicht.

Auch drei andere Flüchtlinge, die sich am Morgen auf den Weg in die Stadt machen, geben an, einen pakistanischen Mitbewohner namens Naved nicht zu kennen. Beim Frühstück habe man über den Anschlag gesprochen, erzählt Zakaria M.. Den Polizeieinsatz haben alle mitbekommen. Aber niemand kenne den Verdächtigen.

Eine Berlinerin

„Bis jetzt waren die Anschläge immer weit genug weg. Nun ist es hier passiert, und ich kann es nicht fassen.“

Alle Mahlzeiten in den Hangars werden gemeinsam in Essensräumen eingenommen und vom Caterer geliefert, persönliche Kochgelegenheiten gibt es nicht. Eine Sprecherin der Betreiberfirma Tamaja, die die Tempelhofer Notunterkunft betreibt, tritt schließlich vor den Hangar 6. Sie möchte nichts zu dem Polizeieinsatz und den Ermittlungen in den Hangars sagen und verweist auf die Polizei und die zuständige Berliner Senatsverwaltung.

Das von Freiwilligen betriebene Café, das um 13 Uhr öffnen sollte, bleibt heute geschlossen. In den Hangars helfen Freiwillige im Café, beim Deutschunterricht, in einer Fahrrad- und Nähwerkstatt und in der Kleiderkammer. Von den ehrenamtlichen Organisatoren der Freiwilligen will sich keiner öffentlich äußern. Die Freiwilligenarbeit soll fürs Erste weitergehen, heißt es bei Tamaja. Sollte der Täter tatsächlich ein Bewohner der Hangars gewesen sein, wäre der Schock groß. Doch bis zum Abend bleibt unklar, ob Naved B. überhaupt an dem Anschlag beteiligt war.

Trost in der Kirche

Die Ruhe, die sich schon kurz nach dem Anschlag über den Breitscheidplatz gelegt hat, wird auch den Dienstag weiter bestimmen. Die umliegenden Straßen sind gesperrt, deutlich weniger Passanten sind unterwegs. Neben der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche war der Lastwagen in die Menge gerast. Jetzt hat sie wie zum Trost ihre Tür geöffnet. Gemurmel erfüllt den Kirchensaal. Durch die vielen kleinen Fensterscheiben fällt blau das Licht herein. Vor dem Altar flackern Teelichter. Viele Menschen tragen Schwarz. Manche umarmen sich. Andere zünden Kerzen an.

Doch nicht für jeden ist das der richtige Rahmen zu trauern. Eine ältere Frau in dickem Mantel steht plötzlich auf. „Ich halte das nicht mehr aus“, sagt sie und verlässt die Kirche. Dann, um halb zwölf Uhr, schiebt sich ein Tross in dunklen Anzügen den Mittelgang entlang. Vorneweg Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. Mit ernster Miene trägt er sich als Erster in das Kondolenzbuch ein, andere Politiker folgen. Die Menschen stellen sich an, warten ruhig, bis sie an die Reihe kommen. Alle schweigen.

Draußen vor der Kirche baut sich am Mittag Georg Pazderski auf. Der Berliner AfD-Chef fragt: „Was können wir tun, dass so etwas Grauenhaftes nicht mehr passiert?“ Dies sei ein Tag der Trauer, da wolle er sich nicht weiter äußern. „Aber wir werden noch konkreter werden“, kündigt er an. Es klingt bedrohlich.

Weiße Rosen gegen den Terror

Unabhängig davon legen Menschen Blumen nieder, viele bringen weiße Rosen. Jemand hat ein Schild geschrieben: „Der Terror darf nicht siegen“. Auch eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren hat Blumen gebracht. Mit einem Taschentuch tupft sie sich die Tränen von der roten Wange. „Das war mir ein großes Bedürfnis“, sagt sie. Sie stammt aus Charlottenburg, gemeinsam mit ihrem Partner ist sie zum Breitscheidplatz gekommen. Beide haben Urlaub und wollten eigentlich auf einen Weihnachtsmarkt gehen. „Das lassen wir jetzt aber“, sagt die 45-Jährige. „Bis jetzt waren die Anschläge immer weit genug weg. Nun ist es hier passiert, und ich kann es nicht fassen.“

Die Frau glaubt, dass der Anschlag etwas mit Berlin machen wird. „Ich habe Kinder, die gehen heute Abend zu einem Konzert. Das sehe ich jetzt schon mit gemischten Gefühlen.“ Sie glaubt auch, dass Menschen anderer Herkunft jetzt befangener betrachtet werden. „Für die Leute, die hier Hilfe suchen, tut mir das echt leid.“

Ein Mann mit einer Deutschlandfahne läuft vorbei. Er sei extra aus Hohenschönhausen zum Breitscheidplatz gefahren, um seine Trauer auszudrücken, sagt er. „Wir müssen verdammt noch mal aufpassen, dass so etwas nicht wieder passiert“, schimpft er. „Hey, nicht so ein AfD-Sprech hier“, fällt ihm ein anderer Passant ins Wort. „Von euch Rechtspopulisten haben wir schon genug.“ Der Ostberliner verteidigt sich. „Ich will nur meine Anteilnahme ausdrücken, das ist doch mein Land.“

„Hallo!“ Der Busfahrer grüßt mit einem gewinnenden Lächeln. Eigentlich fährt er mit seinem Doppeldecker direkt am Breitscheidplatz vorbei, heute muss er einen Umweg nehmen. Er sei heute auch besonders freundlich, erzählt er. Er stammt aus Tunesien, seit acht Jahren lebt er in Berlin. „Man weiß nie, wer was denkt.“ Alle seien angespannt wegen des Anschlags. „Wenn das ein Flüchtling war, dann werden die Leute jetzt wütend auf alle Flüchtlinge.“ Bis 16 Uhr muss er seinen Doppeldecker noch durch die Stadt lenken, dann kann er nach Hause.

„Jeden Mittag beten wir an diesem Ort für den Frieden. Heute läutet die Totenglocke“, sagt die Pfarrerin in der Gedächtniskirche bei der Andacht am Mittag. Etwa 250 Menschen haben sich versammelt. Die Pfarrerin redet über Leben und Glück, das zerstört wurde. Am Abend will man sich zu einem Trauergottesdienst erneut zusammenfinden. Das Blumenfeld vor der Tür wächst und wächst.

Aus Trotz geöffnet

Der Markt am Breitscheidplatz ist regelrecht erloschen. Alle Berliner Weihnachtsmärkte sollten am Dienstag geschlossen bleiben, bittet der Berliner Innensenator. Nicht alle folgen sofort dieser Bitte. Der Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt in Mitte, einem der beliebtesten in Berlin, hat seine Pforten geöffnet. Die Holzhütten und Stände mit weißen Spitzzelten verkaufen Champagner für zwölf Euro das Glas. Es riecht nach Grünkohl und Glühwein.

Erst allmählich fällt auf, wie ruhig es ist. Das liegt an den wenigen Besuchern, vor allem aber daran, dass keine Musik erklingt. An einem Suppenstand sagt die Betreiberin Jasmin Heidschmidt, sie habe „heute keine Lust, gute Laune zu verbreiten“. Sie verzichtet darauf, wie üblich ihr Angebot anzupreisen. „Aber nachgeben will ich auch nicht.“

Das trifft die Stimmung vieler auf dem Gendarmenmarkt, der gleich am Morgen demonstrativ erklärt hatte, er werde öffnen. Auch zwei Freundinnen um die 60, beide mit Glühwein und Zigarette in den Händen, sagen, sie hätten sich bewusst entschieden, ihren geplanten Besuch nicht abzusagen. „Das Weltgeschehen ist turbulent, aber zu Hause kann ich auch tot vom Stuhl fallen“, sagt die eine. Und ein Kunsthandwerker, der seine selbst gemachten Ketten verkauft, sagt: „Mit der deutschen Hysterie kann ich nichts anfangen.“

Kurz vor 13 Uhr läuft Marktbetreiberin Gunda Kniep, eine zierliche Frau mit Felljacke, von Stand zu Stand und informiert die Händler, dass nun doch geschlossen werde. Es sei eine „Empfehlung des Senats“ gewesen, auf diese Art Solidarität zu zeigen, sagt sie. Ihr Kollege hatte kurz zuvor noch vom „Druck“ der Berliner Innenbehörde gesprochen.

Die Leute wollen kommen

Kniep ist dagegen bemüht, sich nicht zu beschweren, aber es ist klar, freiwillig geht sie diesen Schritt nicht: „Wir sehen doch, die Leuten wollen kommen“, sagt sie.

In einem Schnellrestaurant direkt am Breitscheidplatz steht Marcel Hoffmann in seiner roten Arbeitskleidung und wartet teilnahmslos auf Kundschaft. Am Abend zuvor hatte er seine Schicht gerade beendet und wollte mit einer Freundin noch Geschenke einkaufen, als er einen lauten Knall und Schreie hörte. „Es ist ein Glück, dass wir zu dem Zeitpunkt gerade auf der anderen Seite des Europa-Centers waren“, sagt Hoffmann, „vielleicht habe ich mein Leben für andere eingetauscht.“ Minutenlang hätten sie sich danach umarmt, erzählt er.

Dass er nun wieder hier sein muss, mit Blick auf die verwaisten Weihnachtsmarktbuden, quittiert er mit einem resignierten Schulterzucken. „Ich muss leider“, sagt er.

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