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Film „Kontinental ’25“ von Radu JudeSchuld und Fußball

In Radu Judes Film „Kontinental ’25“ kämpft eine Gerichtsvollzieherin mit moralischen Zweifeln und systemischen Zwängen.

Gewissens­prüfung einer Gerichtsvollzieherin: Orsolya (Eszter Tompa) in „Kontinental ’25“ Foto: Grandfilm

Vor sich hin murmelnd, sammelt ein Mann, der bessere Tage in seinem Leben gesehen haben dürfte, in einem Wald Dinge auf, die Menschen weggeworfen haben – Pfand, offene Snacktüten. Als er einen Hohlweg herunterkommt und Dinge in die prallen Taschen über seiner Schulter stopft, brüllt neben ihm ein mechanischer Dinosaurier. Er ignoriert die mechanischen Tiere. Eine Seilbahn bringt ihn zurück an eine Zufahrtsstraße.

Schon in den ersten Einstellungen von „Kontinental ’25“ etabliert der rumänische Regisseur Radu Jude die Tonlage seines Films zwischen Tragik, Skurrilität und politischem Stimmungsbild. Die Tragikomödie lief dieses Jahr im Wettbewerb der Berlinale und wurde mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet.

Wenig später wird Ion Glanetaşu (Gabriel Spahiu) von der Gerichtsvollzieherin Orsolya Ionescu (Eszter Tompa) aus seiner improvisierten Wohnung im Heizraum eines Wohnhauses in Cluj geräumt. Das Haus soll einem Luxushotel weichen. Die Gerichtsvollzieherin hat sich angesichts der Lage viel Mühe gegeben, die Situation abzumildern, aber für Glanetaşu ist es nach den diversen Volten des Schicksals, die ihn vom leidlich erfolgreichen Leichtathleten zum alkoholkranken Arbeitslosen reduziert haben, ein Schlag zu viel: Während die Gerichtsvollzieherin und die Polizisten draußen warten, nimmt er sich das Leben.

Verortung in der Sphäre des Politischen

Ionescu wird von Schuldgefühlen förmlich zerrissen. Doch ihre Umgebung sieht keinen Grund für ihre Selbstzweifel. Ihr Chef macht ein paar geschmacklose Witze und macht einen Haken unter die Sache, ihr Mann tröstet sie zunächst, doch als seine Frau ihm einen Artikel aus der Presse vorliest, der das Ereignis aufgreift und betont, dass Ionescu zur ungarischen Minderheit in Rumänien gehört, hat er nichts Besseres zu tun, als ihr die nationalistisch verwahrlosten Kommentare unter dem Artikel vorzulesen.

In Szenen wie dieser wird Radu Judes Können sichtbar, seine Figuren mit Dingen zu umgeben, die deren Handeln über das Individuelle hinaus in einer politischen Sphäre verorten. 2021 umgab er in „Bad Luck Banging or Loony Porn“, mit dem er damals den Goldenen Bären auf der Berlinale gewann, seine Figuren auf den Straßen und an den Wänden mit Wahlplakaten und Werbung.

Diesen eigentlich einfachen, aber wirksamen Einfall hat er seither ausgebaut. So läuft, während Orsolya ihrem Mann das Ereignis berichtet, auf dem Fernseher im Hintergrund zunächst Werbung und später Fußball. Wie beiläufig werden Orsolyas Gewissensbisse, die dem Funktionieren in einer Konsumwelt zuwiderlaufen, der Selbstzurichtung ihres Mannes gegenübergestellt.

In anderen Politikfeldern funktioniert das Drehbuch sehr ähnlich: So gehört die Immobilienfirma, die Glanetaşu aus seiner Wohnung räumen lässt, um Platz zu machen für das Luxushotel, ehemaligen Angehörigen der Geheimpolizei und evoziert wie beiläufig die Traditionslinien, die das Rumänien der Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden. Mit welcher Leichtigkeit Radu Jude all diese kleinen Verweise in die Handlung einflicht, ist beeindruckend durch den Film zu verfolgen.

Jedes Jahr ein neuer Film

Neben dieser Leichtigkeit ist jedoch auch eine gewisse Routine, mit der vor allem die Umgebung der Protagonistin abgespult wird, nicht zu übersehen. Was kein Wunder ist, wenn man sich vor Augen hält, dass der Regisseur seit einigen Jahren fast jedes Jahr einen neuen Film fertigstellt und in manchen sogar mehr als einen. Und das, während viele seiner Kollegen aus der neuen rumänischen Welle, mit der auch Radu Jude in den 2000er Jahren international bekannt wurde, nur noch alle paar Jahre einen neuen Film drehen.

„Kontinental ’25“ ist denn unterdessen auch nur noch der vorletzte Film des Regisseurs. Sein neuster Film „Dracula“ feierte im Sommer auf dem Filmfestival in Locarno Premiere. Hannah Pilarczyk, Filmredakteurin bei Spiegel Online, hat für diesen Drang einer Reihe männlicher Regisseure, die Welt in hoher Schlagzahl mit ihren Filmen zu beglücken, das Stichwort der „Cinepotenz“ geprägt.

Der Film

„Kontinental ’25“. Regie: Radu Jude. Mit Eszter Tompa, Gabriel Spahiu u. a. Rumänien 2025,

109 Min.

„Kontinental ’25“ ist ein beeindruckender Film, und der Silberne Bär für Radu Judes Drehbuch ist sehr nachvollziehbar. Mit großer Eleganz führt das Drehbuch die Protagonistin durch ihren Parcours der Gewissensbisse und arbeitet in ihren eigenen, hilflosen Versuchen, ihr Gewissen zu beruhigen, und in den Reaktionen ihrer Umgebung ein menschlich ethisches Problem heraus: die Spannung zwischen individuellem Handeln, moralischer Schuld und systemischen Zwängen und dem oft etwas kindischen Versuch, dieser mit symbolischen Handlungen zu entkommen, einerseits und andererseits dem Unwillen, sich in kapitalistischen Konsumgesellschaften solche ethischen Fragen auch nur zu stellen.

Orsolya Ionescu etwa spendet ein bisschen und beginnt als Ausgleich linke Literatur zu lesen. Scheinbar aus der Lameng wirft Radu Jude in seinem Film ethische Fragen auf, durchwebt sie mit der Politik der Gegenwart und beschwört in der Form des Films noch Filmgeschichte herauf, am offensichtlichsten Roberto Rossellinis „Europa 51“. Und das Erstaunlichste: So gut „Kontinental ’25“ auch ist, er ist noch nicht mal Radu Judes bester Film.

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